Ein verheerendes Erdbeben löste am 1. November 1755 einen gewaltigen Tsunami aus und verwüstete Portugals Hauptstadt Lissabon. In den Trümmern einer der bedeutendsten europäischen Handelsstädte starben rund 30.000 Menschen. Das Prekäre daran: Zum Zeitpunkt des Unglücks befanden sich viele Christen in den Kirchen und gedachten ihrer Heiligen. Das Erdbeben erschütterte somit nicht nur Lissabon sondern zugleich auch das christliche Weltbild: Konnte solch ein Unglück gottgewollt sein?
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Als vor fast genau 250 Jahren, am 1. November 1755, ein gewaltiges Erdbeben die Metropole Lissabon erschütterte und eine darauf folgende Flutwelle Tausende von Menschen in den Tod riss, hinterließ dieses Ereignis nicht nur Spuren in der Stadt sondern ebenso gewaltige Risse im Weltbild der Frühaufklärung. Die Frage, wie ein gütiger Gott solches Unglück – scheinbar blind – über eine ganze Stadt bringen könne, entzweite die Gemüter. Ganze Generationen von Theologen, Philosophen und Schriftstellern wurden von diesem Ereignis geprägt und suchten es auf unterschiedliche Weise zu deuten.
Katastrophenbewältigung – 1755 und 2004
Auch heute im Rückblick beschäftigt diese Frage wieder die Wissenschaft. „Die Tsunami-Katastrophe im Indischen Ozean vom Dezember 2004 verleiht dem Thema über den Erinnerungstag hinaus unerwartete Aktualität“, so Volker Sellin, Sekretär der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. So beschäftigen sich derzeit neben der Academia Europaea auch die Universität Göttingen und die Deutsche Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts (DGEJ) mit diesem Thema.
„Das Beben von Lissabon löste im geistigen Europa des 18. Jahrhunderts eine heftige Diskussion über die Gerechtigkeit Gottes und die Vernünftigkeit der Welt aus. An die Stelle von Sünde und Schuld treten Katastrophe und Risiko, in den aufgeklärten Gesellschaften ist nicht mehr von der Sintflut, sondern von der Geologie und Seismologie die Rede. „Neue wissenschaftliche Beschreibungssysteme, apparativ-empirische Naturbeobachtungen und naturkundliche Beschreibungen sind Teil einer längerfristigen Wandlung in der Semantik der Katastrophe, die in der Formierung der modernen Risikogesellschaft mündet“, erklärt Prof. Gerhard Lauer von der Universität Göttingen.
„Diese Katastrophe hat das Selbstverständnis des 18. Jahrhunderts verstört. Mit dem Begriff ,Tod des Optimismus‘ wurde die Erschütterung der europäischen Aufklärung durch das Desaster von Lissabon umschrieben“, ergänzt Thorsten Unger. „Die geologische Erschütterung weitete sich zu einem medialen Großereignis und in der Folge zu einem philosophischen und theologischen, aber auch kulturgeschichtlichen Umbruch aus.“
Frühwarnsystem auch für Europa?
Heute weiß man inzwischen ganz genau, welche geologischen Bedingungen damals zur Katastrophe führten. Grund genug für Prof. Friedemann Wenzel von der Forschungsstelle „World Stress Map“ der Heidelberger Akademie der Wissenschaften auch in Europa für die Einrichtung eines Tsunami-Frühwarnsystems zu plädieren Denn nach wie vor sind die Küsten Spaniens, Portugals und Nordafrikas gefährdet. „Wir müssen wirksame Mittel gegen solche Extremereignisse finden, denn die Gefahr ist real. Dies ist eine Lehre, die wir aus dem Beben von 1755 ziehen sollten“, so Wenzels Einschätzung.
(Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Uni-Göttingen, 31.10.2005 – AHE)