Viele große Gletscher der Alpen begannen schon zu schrumpfen, bevor der Klimawandel richtig einsetzte. Sie verloren ab 1860 an Masse, obwohl es zu dieser sogar eher kühl war. Den Grund dafür haben US-Forscher jetzt dingfest gemacht: Die Industrialisierung ist schuld. Der Ruß aus den rasant wachsenden Industrien lagerte sich schon ab 1860 auf den Gletschern der Alpen ab und machte die Eisoberflächen dunkler. Dadurch schluckten sie mehr Sonnenlicht und die Gletscher tauten, wie die Forscher im Fachmagazin „Proceedings of the National Academy of Sciences“ berichten.
Aufzeichnungen über die Entwicklung der Alpengletscher gehen immerhin bis ins 16. Jahrhundert zurück. Aus diesen Daten geht hervor, dass sich der Schwund der Eisriesen schon Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte. Schon seit damals ziehen sich die Gletscherzungen aus den Alpentälern immer weiter zurück. Bis 1930 hatten die Eisriesen sogar schon durchschnittlich rund einen Kilometer Länge eingebüßt. Aber warum? Wetteraufzeichnungen zeigen, dass die globale Erwärmung daran nicht schuld sein kann. Ganz im Gegenteil: Die Durchschnittstemperaturen in den Alpen lagen in der Zeit von 1860 bis 1930 sogar etwa ein Grad niedriger als in der Zeit davor.
Ist Ruß der Schuldige?
Warum also waren die Gletscher schon in dieser vergleichsweise kühlen Zeit so stark geschrumpft? Thomas Painter vom NASA Jet Propulsion Laboratory in Pasadena und seine Kollegen hatten bereits einen potenziellen Verdächtigen im Visier: die Albedo. Als Albedo bezeichnen Forscher die Rückstrahlfähigkeit einer Oberfläche: Je mehr Sonnenstrahlung eine Fläche reflektiert, desto höher ist ihre Albedo und desto weniger erwärmt das Sonnenlicht diese Fläche. Helle Eis- und Schneeflächen haben normalerweise eine sehr hohe Albedo, deshalb bleiben sie nicht nur selbst kühl, die großen Eisflächen der Erde wirken auch als wichtiges „Kühlmittel“ im Klimasystem.
Aber diese normalerweise hohe Albedo des Eises kann sich verringern – beispielsweise wenn Schmutz und Rußablagerungen die Gletscheroberfläche dunkler färben. Und genau das, so vermuteten Painter und seine Kollegen, könnte auch im Falle der Alpengletscher passiert sein. Denn ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde im Zuge der Industrialisierung vor allem Kohle massenweise verbrannt und der Rauch ungefiltert in die Umwelt geblasen. Der Ruß der privaten Haushalte, des Zugverkehrs und der Fabriken wurde vom Wind bis in die Alpen getragen und könnte sich dort auf den Gletschern niedergelassen haben.
Spurensuche in Eisbohrkernen
Um das zu prüfen, analysierten die Forscher Daten von Eisbohrkernen, die aus verschiedenen Gletschern der Alpenregion entnommen worden waren, darunter dem Glacier d’Argentière am Mont Blanc, dem Hintereisferner in den Ötztaler Alpen, der Pasterze in den Ostalpen und dem Rhonegletscher im Schweizer Kanton Wallis. In den Eisbohrkernen lässt sich die jeweils zu einer bestimmten Zeit auf der Gletscheroberfläche abgelagerte Rußmenge auch Jahrhunderte später noch ermitteln.
Anhand dieser Daten errechneten die Forscher dann die Wirkung der Rußablagerungen auf die Albedo und damit auf die Menge an wärmender Sonneneinststrahlung, die die Gletscher erhielten. Über ein Computermodell konnten sie anschließend ermitteln, wie viel Masse die Alpengletscher durch diesen Einfluss jeweils verloren haben.
Mehr dunkler Ruß – stärkere Wärmewirkung der Sonne
Das Ergebnis: Tatsächlich stiegen die Konzentrationen von Ruß im Eis der Alpengletscher ab Mitte des 19. Jahrhunderts abrupt an, wie die Forscher berichten. Das stimme gut mit der zu dieser Zeit stark fortschreitenden Luftverschmutzung durch die Industrialisierung in Westeuropa überein. Durch die dunkle Rußdecke aber erhöhte sich die Wärmewirkung der Sonneneinstrahlung auf das Eis um 13 bis 17 Watt pro Quadratmeter (W/m2) zwischen 1850 und 1880 und bis zu 22 W/m2 am Anfang des 20. Jahrhunderts. „Dies resultierte in einer zusätzlichen Schneeschmelze von 90 Zentimetern pro Saison“, erklären die Forscher.
„Unsere Studie enthüllt damit einen weiteren menschlichen Einfluss. Das ist eine Mahnung, wie weitreichend die Folgen sein können, die unsere Aktivitäten auf die Umwelt haben“, konstatiert Koautor Waleed Abdalati von der University of Colorado in Boulder. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2013; doi: 10.1073/pnas.1302570110)
(PNAS, 03.09.2013 – MVI/NPO)