Der Hoatzin gilt als der „rätselhafteste Vogel Südamerikas“: Seine Verwandtschaft ist ungeklärt, er fliegt schlecht, lebt streng vegetarisch und besitzt ein Verdauungssystem, das dem von Wiederkäuern verblüffend ähnelt. Entdeckt wurde das unteranderem in Brasilien und Venezuela beheimatete Tier bereits vor 235 Jahren, erst jetzt haben neue Fossilfunde einige der Geheimnisse um den „schrägen“ Vogel gelöst. Demnach lebten die Hoatzin-Vorfahren ursprünglich in Afrika und kam von dort vor rund 20 Millionen Jahren über das Meer nach Südamerika, berichtet ein internationales Wissenschaftlerteam im Fachmagazin „Naturwissenschaften“.
Für ihre Studie untersuchten die Forscher 17 Millionen Jahre alte Knochen aus Namibia neu. Diese vor wenigen Jahren entdeckten Fossilien waren zunächst einer ausgestorbenen Familie der Kranichvögel zugerechnet worden. „Diese Zuordnung kann allerdings nicht aufrecht erhalten werden, denn die Funde weisen charakteristische Knochenmerkmale von Hoatzinen auf“, sagt Gerald Mayr vom Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt, einer der Autoren. Dieses Ergebnis deute nun auf einen afrikanischen Ursprung des rätselhaften Vogels hin.
Auf Treibgut von Afrika nach Südamerika
Die Hoatzin-Vorfahren müssten irgendwann den Atlantik überquert haben, um von einem Kontinent zum anderen zu gelangen, sagen die Forscher. Aufgrund der damals herrschenden Meeresströmungen und Winde sei dies wahrscheinlich nur von Osten nach Westen, von Afrika nach Südamerika, möglich gewesen.
„Wir nehmen an, dass der Vogel den Atlantik auf einer schwimmenden Treibgutinsel überquert hat“, mutmaßt Mayr. Von einigen Primaten, Nagetieren und Eidechsen sei diese Reisevariante auf Ansammlungen aus Pflanzenmaterial bereits bekannt, für Vögel sei dies jedoch der erste Nachweis.
Vogel weidet Blätter im „Kriechgang“ ab
Der Hoatzin (Opisthocomus hoazin) sei einer der eigenartigsten Vögel Südamerikas, sagen die Forscher. Der bis 70 Zentimeter lang werdende Vogel lebt im Tiefland des Amazonas und Orinokogebiets. Dort klettert er mit unbeholfenen Bewegungen eher kriechend auf dem Geäst von Bäumen umher und weidet Blätter ab.
Ähnlich wie bei Rindern und anderen pflanzenfressenden Wiederkäuern verdaut der Hoatzin seine Nahrung nicht im Magen, sondern mit Hilfe von Bakterien in einem speziell angepassten Bereich des Kropfs und der unteren Speiseröhre. Wegen der enormen Vergrößerung dieses Organs sind Schultergürtel und Brustbereich des Vogels ausgeweitet und umgeformt. Auch die Flügel sind verkümmert.
Dass diese unter den Vögeln einmalige Ernährungsweise keine moderne Erfindung ist, konnten die Forscher jetzt anhand eines neuen Fossilfundes in Brasilien klären. Die dort entdeckten 23 Millionen Jahre alten Schulter- und Oberarmknochen seien bereits ähnlich umgeformt wie bei heute lebenden Hoatzins, sagen die Wissenschaftler. Das lege nahe, dass die Vögel bereits sehr früh ihre ungewöhnliche Lebensweise entwickelt hätten. (Naturwissenschaften, 2011; DOI: 10.1007/s00114-011-0849-1)
(Naturwissenschaften / Senckenberg Forschungsinstitut Frankfurt / dapd, 05.10.2011 – DLO)