Könnte man das Wasser aus den Ozeanen ablassen, so käme eine bizarre Gebirgslandschaft zum Vorschein. Denn wie auf den Kontinenten verbergen sich unter der Meeresoberfläche hohe Berge und tiefe Täler, flache Plateaus und schroffe Schluchten. Im Rahmen des Forschungsprojekts HERMES sollen nun die Geheimnisse um die unterseeischen Canyons an den europäischen Kontinentalränder gelöst werden.
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Nicht nur im Grand Canyon hat die Erosion ganze Arbeit geleistet – auch an den Küsten und an den Kontinentalrändern sind Schluchten von mehr als 1.000 Meter Tiefe keine Seltenheit. Ebenso wie ihre Ebenbilder an Land gibt es sie in zahlreichen Varianten, mal schmal oder breit, mal schnurgerade oder mäandrierend. Als eine Art „Rutschbahn“ transportieren sie Sedimente aus den Flussmündungen oder den Kontintalhängen von den oberflächennahen Wasserschichten in die Tiefsee. Doch eben diese hohe Schwebfracht und das häufig unwegsame Gelände erschwerte bislang die umfassende Untersuchung der untermeerischen Canyons.
Nährstoffreiche Schluchten
Nun geht mit HERMES, einem Meeresforschungsprojekt unter Beteiligung 15 europäischer Staaten, allerdings eine völlig neue Generation von Tauchrobotern und Messgeräten an den Start. In den kommenden Monaten werden die Wissenschaftler, unter anderem vom Alfred-Wegener-Institut und dem IFM-Geomar, während zahlreicher Tauchfahrten nicht nur viele der bereits bekannten Canyons exakter vermessen, sondern diese auch genauer auf ihre biologische Vielfalt hin untersuchen. Denn schon länger wird vermutet, dass sich in den Canyons die Kinderstube zahlreicher Tiefseefische befinden könnte.
So herrschen in den Schluchten ganz besondere Strömungsverhältnisse, die wie eine Art großer Staubsauger alle Arten von Sedimenten und vor allem totes organisches Material von der Oberfläche nach unten befördert. Dieses nährstoffreiche Wasser ist ein wahrer Festschmaus für den Fischnachwuchs. Zugleich reißen aber auch submarine Lawinen immer wieder große Mengen der Sedimente auf einmal nach unten. Diese so genannten Turbiditströme sind eine der Erklärungen, warum die Canyons im Laufe der Zeit nicht von selbst „versanden“, sondern sich im Gegenteil sogar weiter zu vertiefen scheinen.
Die meisten dieser riesigen Unterwasser-Canyons entstanden vermutlich als ganz normale Flusstäler. So lag der Meeresspiegel während der letzten Kaltzeit rund 100 Meter niedriger und weite Teile der heutigen Schelfgebiete waren damals trocken. Die Flüsse schnitten sich in das Festland ein und wurden anschließend mit zunehmender Klimaerwärmung durch die Ozeane regelrecht verschluckt. Besonders eindrucksvoll kann dies an Themse oder Kongo nachvollzogen werden, deren Flussbett sich heute direkt unterhalb der Wasseroberfläche als submariner Canyon in die Tiefe fortsetzt.
Erste Ergebnisse der Tauchfahrten
Um mehr Licht ins Dunkel dieser Schluchten zu bringen, tauchen die Wissenschaftler im Rahmen von HERMES in einige der bereits bekannten Canyons rund um die Iberische Halbinsel und im Mittelmeer ab. So muss beispielsweise der Golf von Lion einen wahren Expeditions-Marathon über sich ergehen lassen. Gleich vier verschiedene Canyons werden hier in den nächsten Monaten intensiv beprobt. Als ersten Überraschungserfolg entdeckten Forscher an Bord des RV Aegaeo bereits Anfang Mai einen bislang unbekannten Canyon zwischen den griechischen Inseln Kreta und Gavdhos. Nach der Entnahme erster Sedimentproben sollen weitere Untersuchungen im Herbst und im nächsten Frühjahr folgen.
Auch das niederländische Forschungsschiff RV Pelagia hat inzwischen eine internationale Forschungsfahrt zum Nazare-Canyon nahe Portugal erfolgreich beendet. Mit Unterwasserkameras und Tauchrobotern drangen die Wissenschaftler sowohl in den oberen Bereich des Canyons in 890 Meter Tiefe als auch in den unteren Teil in rund 3.100 Meter Tiefe vor. Neben zahlreichen Wasser-Messungen entnahmen die Forscher vor allem Bodenproben und organisches Material, um mehr über die Besonderheiten dieses ungewöhnlichen Lebensraumes zu erfahren. Zugleich konnten sie im benachbarten Setubal-Canyon das Vorkommen von Kaltwasserkorallen in einer Tiefe von 1.450 Metern bestätigen. Vermutlich wird dies nicht die letzte Überraschung des HERMES-Projekts bleiben.
(HERMES, 19.08.2005 – AHE)