Der Klimawandel wird die Arktis vermutlich stärker treffen als andere Regionen der Erde. Doch für genaue Modellrechnungen sind die Daten über die natürlichen Klimaschwankungen in dieser Polarregion bislang noch zu lückenhaft. Nun hat ein Forscherteam aus Deutschland, Russland und Amerika erstmals ein geologisches Archiv in der sibirischen Tundra entdeckt, mit dem sich die Klimageschichte der Arktis lückenlos bis in die Zeit des Pliozäns vor 3,6 Millionen Jahren zurückverfolgen lässt. Die Sedimente am Grund des Elgygtygn-Sees sollen im Winter 2007/2008 mit Tiefbohrungen erschlossen und anschließend untersucht werden.
Der Elgygytgyn-See (tschuktschisch: „Weisser See“) liegt in der russischen Provinz Chukotka im äußersten Nordosten von Sibirien, rund 100 Kilometer nördlich des Polarkreises und 150 Kilometer nordöstlich der heutigen Baumgrenze. Der See ist nur im Sommer für wenige Wochen völlig eisfrei und hat einen Durchmesser von etwa zwölf Kilometern sowie eine Wassertiefe bis 170 Meter. Das Besondere an diesem See ist, dass er sich in einem tiefen Krater befindet, der vor 3,6 Millionen Jahren durch einen Meteoriteneinschlag entstanden ist.
Ein Meteoriteneinschlag als Glücksfall für die Klimaforschung
„Umfangreiche Voruntersuchungen mit Expeditionen in den Jahren 1998, 2000 und 2003 haben gezeigt, dass sich der See bereits unmittelbar nach dem Meteoriteneinschlag gebildet hat und seitdem weder ausgetrocknet ist noch von Gletschern überfahren wurde“, erklärt Professor Martin Melles vom Institut für Geophysik und Geologie der Universität Leipzig. „Daher konnte sich am Grund des Sees eine mehr als 400 Meter dicke Sedimentschicht ablagern, die in Teilen des Seezentrums sogar ungestört ist“, so Melles weiter, der zusammen mit seinen Mitarbeitern die Untersuchungen vor Ort koordiniert. „Die Seesedimente überlagern eine so genannte Impaktbrekzie aus vorwiegend eckigem Gesteinsschutt, der beim Einschlag ausgeworfen und zum Teil aufgeschmolzen wurde.“
Mithilfe dieser Sedimente wollen die Wissenschaftler beispielsweise enträtseln, wie die Arktis vor etwa 2,6 Millionen Jahren auf den Übergang vom warmen Klima des Pliozäns zum wesentlich kälteren Klima des Quartärs, dem „Eiszeitalter“, reagiert hat. Denn erst im Zuge dieses Klimasprungs kam es hier wohl zu größeren Vergletscherungen und dem auch heute noch großflächig verbreitetem Dauerfrostboden. Durch den allmählichen Klimawandel wurden dann die ehemals dichten Wälder der Region von der spärlichen Tundrenvegetation verdrängt.
„Konkurrenz-Archive“ lückenhaft
„Die Sedimentschichten des Elgygytgyn-Sees sind so bedeutsam, da alle anderen Quellen über die Klimageschichte der Arktis bisher unvollständig sind“, erklärt Melles. So ist beispielsweise das Archiv der grönländischen Eiskappe auf die letzten 100.000 Jahre beschränkt, da das ältere Eis inzwischen abgeschmolzen ist. Mit den Sedimenten am Grund des Arktischen Ozeans können die Geologen zwar weiter in die Geschichte vorstoßen, die bisher erbohrten Sedimentkerne weisen jedoch häufig Lücken und eine sehr geringe Bildungsrate auf, was die zeitliche Auflösung der in den Sedimenten gespeicherten Geschichte stark einschränkt.
In den arktischen Landgebieten wiederum sind die bisher erschlossenen Sedimentabfolgen sogar noch lückenhafter. Eine Ursache dafür sind die zu geringen Alter von Hohlformen, in denen Sedimente ungestört und kontinuierlich abgelagert werden können. Außerdem wurden die arktischen Landgebiete in den Kaltzeiten des Quartärs fast vollständig von Eismassen bedeckt, wodurch die Sedimentation unterbrochen oder die zuvor in den Warmzeiten abgelagerten Sedimente ausgeräumt wurden.
Bohrung im Internationalen Polarjahr
„Die Ergebnisse der Voruntersuchungen am Elgygytgyn haben das Internationale Kontinentale Tiefbohrprogramm (ICDP) überzeugt, zwei Bohrungen auf dem See und eine dritte in den Dauerfrostboden in seinem Einzugsgebiet mit 1,5 Millionen Dollar zu unterstützen“, erläutert Melles. Noch einmal die gleiche Summe wollen zudem die amerikanische National Science Foundation (NSF) sowie das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beisteuern. Weitere finanzielle Unterstützungen in geringerem Umfang erwarten die Forscher aus Russland, Kanada und Österreich. Sollte die Finanzierung im Herbst 2006 gesichert sein, könnten die Bohrungen im Winter 2007/2008 und somit innerhalb des Internationalen Polarjahres durchgeführt werden.
„Das Bohrprojekt ist ungewöhnlich teuer, da der See 260 Kilometer von der nächstgelegenen Siedlung entfernt liegt und weder über Straßen noch per Zug oder Schiff erreichbar ist“, erläutert Melles. Um die Kosten zu minimieren, werden die Bohrungen daher im Winter durchgeführt, weil so die 1,5 bis zwei Meter dicke Eisdecke auf dem See als Plattform genutz werden kann. „Bei bis zu minus 30 Grad Celsius und verbreiteten Winterstürmen wird das sicherlich kein leichtes Unterfangen“, schätzt Melles die Arbeitsbedingungen vor Ort ein. Trotzdem ist er zuversichtlich, dem sibirischen See das Klima-Archiv entlocken zu können.
(Martin Melles, Universität Leipzig, 18.08.2006 – AHE)