Ein Steinzeitkind liefert neue Einblicke in die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner – und sorgt für Überraschungen. Die DNA des vor 12.500 Jahren gestorbenen Jungen der Clovis-Kultur zeigt, dass sich die Indianer Nord- und Südamerikas viel früher trennten als gedacht. Sie widerlegt aber auch die Hypothese, dass Europäer schon in der Steinzeit über den Atlantik kamen, wie Forscher in „Nature“ berichten. Seltsam auch: Der Junge ist am engsten mit heute lebenden Maya und Amazonas-Indianern verwandt – obwohl seine Relikte in Montana gefunden wurden.
Woher die Vorfahren der ersten Indianer stammten, darüber diskutieren Anthropologen bis heute. Ob der Altai, Sibirien oder sogar der Westen Eurasiens – in den letzten Jahren haben archäologische und genetische Funde mal die eine, mal die andere Theorie gestützt. Auch die umstrittene These, nach der die ersten Ureinwohner Amerikas nicht über die Beringstraße aus Asien, sondern über den Atlantik aus Europa kamen, gilt zwar als extrem unwahrscheinlich, eindeutig widerlegt ist sie aber nicht. Als Indiz dafür galt lange das rätselhaft europäische Aussehen einiger Funde von Ureinwohner-Fossilien, darunter dem rund 9.000 Jahre alten Kennewick Man.
Einziges Grab der Clovis-Kultur
Jetzt hat ein internationales Forscherteam um Eske Willerslev von der Universität von Kopenhagen neue Einblicke in die Frühgeschichte des amerikanischen Kontinents und seiner Bewohner gewonnen. Wichtigster Helfer dabei: ein vor rund 12.500 Jahren gestorbenes Steinzeitkind. Dieses wurde vor rund 12.707 bis 12.556 Jahren zusammen mit Grabbeigaben nahe Anzick in Montana bestattet.
Das Grab von Anzick-1, wie der Junge getauft wurde, ist das einzige bisher bekannte der sogenannten Clovis-Kultur. Diese vor rund 13.000 Jahren in weiten Teilen Nordamerikas verbreitete Steinzeitkultur gilt als die älteste Population von Jägern und Sammlern auf dem amerikanischen Kontinent und als Vorläufer der meisten indianischen Völker. Willerslev und seine Kollegen haben nun erstmals das Erbgut dieses Anzick-1 getauften Jungen komplett analysiert – und damit weiter in die genetische Geschichte Nordamerikas zurückgeschaut als jemals zuvor.
Ein Indio-Vorfahre in Montana
Um die Herkunft und Verwandtschaft des Clovis-Jungen zu ergründen, verglichen die Forscher sein Erbgut mit dem von 143 verschiedenen heutigen Menschengruppen in Nord- und Südamerika, aber auch in Asien und Europa. Die erste Überraschung: Obwohl der Clovis-Junge in Nordamerika lebte, ist er enger mit 44 heutigen mittel- und südamerikanischen Ureinwohner-Gruppen verwandt als mit Indianern Kanadas und der Arktis. Wie die Forscher erklären, gibt es zwei Szenarien, die dies erklären könnten:
Zum einen könnten sich die Stammeslinien der nord- und südamerikanischen Ureinwohner schon vor der Clovis-Ära aufgespalten haben. Ein Teil wäre dann nach der Einwanderung über die Beringstraße in der Arktis „hängen geblieben“, während der Rest der Population weiter nach Süden zog und später auch Südamerika besiedelte. Anzick-1 müsste dann kurz nach dieser Aufspaltung geboren worden sein – als Kind von Clovis-Menschen, die bereits auf dem Weg nach Süden waren.
Nachträgliche Einwanderung aus Sibirien?
Die zweite Möglichkeit: Anzick-1 und seine Eltern gehörten zu den Urahnen aller amerikanischen Ureinwohner – im Norden wie im Süden. Die Aufspaltung beider Gruppen geschah erst nach seinem Tod. Die Unterschiede seines Erbguts zu heutigen arktischen Indianerstämmen ließen sich damit erklären, dass deren Vorfahren nachträglich aus Sibirien eingewandert sind. Willerslev und seine Kollegen haben dieses Szenario überprüft, indem sie das Genmuster der arktischen Indianer mit dem von 19 verschiedenen sibirischen Stämmen verglichen.
Ihr Fazit: „Es gibt keinen Beleg für einen nachträglichen Genfluss aus Sibirien in diese Ureinwohnergruppe.“ Ihrer Ansicht nach ist daher das erste Szenario wahrscheinlicher: Als der Clovis-Junge lebte, hatte die Auftrennung in nord- und südamerikanische Ureinwohner schon stattgefunden.
Rätselhafte Verbindung zu den Maya
Ein weiterer Genvergleich stützt diese Vermutung: Willerslev und seine Kollegen haben das Genom von Anzick-1 mit dem von verschiedenen südamerikanischen Ureinwohnern verglichen. Das überraschende Ergebnis: Am engsten verwandt ist der Clovis-Junge mit den heute lebenden Nachkommen der Maya und mit den Angehörigen eines Stammes von Amazonas-Indianern, den Karitiana.
Dennoch war Anzick-1 aber kein Maya, wie die Forscher betonen. Denn die Genvergleiche zeigen auch, dass der Clovis-Junge auch mit allen anderen amerikanischen Ureinwohnern noch relativ eng verwandt war. Er gehörte daher zu einem Volk, das sich noch nicht sehr weit von den gemeinsamen Wurzeln aller Ureinwohner entfernt hatte.
Keine Atlantik-Überquerer
Und noch etwas zeigt das Erbgut des Clovis-Jungen: Von europäischem Erbgut fanden die Forscher bei ihm so gut wie keine Spur. „Unsere Analysen sprechen eindeutig gegen die Möglichkeit, dass die Clovis-Menschen über den Atlantik aus Europa nach Amerika kamen“, betonen die Forscher. Egal ob das Kind europäisch aussah oder indianisch – sein Erbgut mache es eindeutig zu einem Nachkommen von Menschen, die über die Beringstraße einwanderten.
Genetisch ist der Clovis-Junge sogar entfernt mit dem Kind von Mal’ta verwandt. Das Genom dieses vor rund 24.000 Jahren in Südsibirien lebenden Jugendlichen war erst im letzten Jahr von Willerslev und seinen Kollegen analysiert worden. (Nature, 2014, doi: 10.1038/nature13025)
(Nature, 13.02.2014 – NPO)