Der Zustand des havarierten Reaktors vier des Atomkraftwerkes Tschernobyl in der Ukraine ist zwanzig Jahre nach dem Unfall katastrophal. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen Greenpeace-Studie. Demnach sei die Schutzhülle aus Stahl und Beton, mit der die Reaktorruine von der Umwelt abgeschottet werden soll, vom Einsturz bedroht. Die ursprünglich geplanten Maßnahmen zur Stabilisierung des so genannten Sarkophags seien zudem nur unvollständig umgesetzt worden und es gäbe bis heute kein Gesamtkonzept zur langfristigen Absicherung der Ruine.
Die Schutzhülle wurde im ersten halben Jahr nach der Reaktorkatastrophe unter Zeitdruck und schwierigsten Bedingungen errichtet. Doch die Konstruktion ist nach Angaben der Greenpeace-Studie instabil: In der Außenwand klaffen Löcher, durch die der Wind radioaktiven Staub heraus bläst und Regenwasser eindringt. Sollte der Reaktor einstürzen, würde eine radioaktive Staubwolke die Menschen in der Region erneut bedrohen und zusätzlichen Strahlenbelastungen aussetzen.
"In den letzten 20 Jahren ist viel zu wenig geschehen, um die Region vor dem explodierten Reaktor zu sichern", sagt Thomas Breuer, Atom-Experte von Greenpeace. "Auch die Atomindustrie und der Einsatz von Milliarden Steuergeldern aus den Staatskassen der Industrieländer brachten keine Lösung für Tschernobyl."
Nun will ein Konsortium aus 28 Geberländern und der ukrainischen Regierung den Unglücksreaktor absichern. Der Sarkophag soll wie bislang geplant stabilisiert und ausgebessert werden. Zudem soll eine neue große Schutzhülle über den Reaktor geschoben werden. Dieses Projekt weist jedoch Greenpeace zufolge zwei schwere Mängel auf: Es biete keine Lösung für das Hauptproblem, die hochgradig radioaktive Masse, zu der die Brennstäbe mit dem Baumaterial des Reaktors vor 20 Jahren verschmolzen. Was mit dieser Masse passieren soll, wie sie geborgen oder behandelt werden soll – dazu finde sich nichts in dem Plan, so Greenpeace. Außerdem sei auch die zweite Schutzhülle nur eine Übergangslösung: Sie soll 50 bis 100 Jahre halten.
"Damit überlassen wir die Probleme von Tschernobyl den nachfolgenden Generationen, weil niemand in der Lage ist, die Folgen der Katastrophe auch nur annähernd zu lösen", erklärt Breuer. "Die Baustelle Tschernobyl zeigt: Wir Menschen beherrschen nicht einmal die Aufräumarbeiten eines Atomunfalls. Geschweige denn die Atomkraft selber." Greenpeace fordert daher, alle Atomkraftwerke so schnell wie technisch möglich abzuschalten und die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) umzuwandeln: Sie soll nicht länger die zivile Nutzung der Atomkraft fördern, sondern den weltweiten Ausstieg aus der Atomkraft beaufsichtigen.
(Greenpeace e.V., 13.04.2006 – AHE)