Geowissen

Türkei: Warum die Erde zweimal bebte

Neue Analysen klären den Ablauf des Doppelbebens vom 6. Februar 2023

ErdbebenfolgenTürkei
Zerstörungen nach den beiden Starkbeben in der Türkei am 6. Februar 2023. © Jiannan Meng

Im Februar 2023 erschütterten gleich zwei katastrophale Erdbeben den Südosten der Türkei – im Abstand von nur neun Stunden. Doch wie kam es zu diesem tektonischen Doppelschlag? Neue Einblicke in Ursachen und Ablauf dieses Ereignisses liefern nun Daten, die Forschende direkt nach den Beben vor Ort gewonnen haben. Sie enthüllen, wo der größte Bodenversatz auftrat und auch, wie die Schockwellen und Spannungen von einer Verwerfung auf die nächste übersprangen. Dies könnte auch Risikoabschätzungen verbessern, so das Team in „Science“.

Am 6. Februar 2023 erschütterten gleich zwei schwere Erdbeben den Südosten der Türkei. Gegen 02:00 Uhr nachts ereignete sich der erste Erdstoß der Magnitude 7,8 nahe der Millionenstadt Gaziantep. Es war das stärkste Erdbeben in der Türkei seit einem Jahrhundert. Am Mittag desselben Tages folgte rund 100 Kilometer nördlich ein zweites Starkbeben der Magnitude 7,5. Beide zusammen verursachten katastrophale Zerstörungen, ganze Ortschaften stürzten ein, mehr als 59.000 Menschen starben.

Türkei tektonisch
Tektonische Verwerfungen in der Türkei und Umgebung. © Mikenorton/ CC-by-sa 3.0

Ursache dieser doppelten Katastrophe ist eine tektonische Hochrisikozone: Im Südosten der Türkei stoßen die Arabische, die Afrikanische und die Anatolische Erdplatte aufeinander und erzeugen ein komplexes Muster an Verwerfungen. Dabei zieht die Totes-Meer-Transformstörung von Südosten in die Türkei hinein und trifft dort auf die Ostanatolische Verwerfung. Nördlich davon läuft der Zyperngraben auf diese Kreuzung zu und mündet sowohl in die Ostanatolische Verwerfung als auch in die Çardak-Sürgü-Verwerfung.

Schon am Tag nach den Beben vor Ort

Warum es im Februar 2023 zu gleich zwei aufeinanderfolgenden Starkbeben in der Türkei kam und was dabei an diesen Verwerfungen passierte, haben nun Forschende um Jiannan Meng von der Chinesischen Universität für Geowissenschaften in Wuhan genauer rekonstruiert. Sie waren schon am Tag nach dem Erdbeben vor Ort und konnten daher mithilfe von Drohnen und Feldmessungen dokumentieren, wie sich der Untergrund entlang der Verwerfungen verschoben hat – bevor Erosion, Feldarbeiten und anderes die Spuren wieder verwischten.

„Diese bodengestützten Messungen konnten wir mit Satellitendaten und seismischen Messdaten, sowie mit geophysikalischen Modellen abgleichen“, erklärt das Team. Das Resultat ihrer Analysen ist eine sekundengenaue Rekonstruktion der Geschehnisse im Untergrund und ihrer Folgen an der Erdoberfläche.

Tektonische „Explosion“ am Kreuzungspunkt

Die Rekonstruktion zeigt: Anders als bei den meisten Erdbeben setzte der erste Erdstoß seine größte Energie nicht direkt am Epizentrum frei, das im sogenannten Narli-Segment der Totes-Meer-Transformstörung lag. Stattdessen steigerte sich die Energiefreisetzung im Laufe von 24 Sekunden allmählich und erreichte erst dann – knapp 50 Kilometer nordöstlich vom Epizentrum – seinen Höhepunkt. „Das deutet darauf hin, dass sich der Bruch des Untergrunds in dieser Zeit vom Narli-Segment bis in die Ostanatolische Verwerfung ausbreitete“, erklärt das Team.

Schienenversatz
Der Versatz des Untergrunds durch das erste Starkbeben am 6. Februar 2023 hat diese Eisenbahnschienen um zwei Meter zur Seite gebogen.© Jiannan Meng

Erst dort, wo die Transformstörung auf die Ostanatolische Verwerfung trifft, entfaltete das Beben seine volle Wucht. Die Schockwellen ließen den Untergrund ab jetzt mit Überschalltempo brechen und erzeugten einen sogenannten „Machkegel“, wie Meng und sein Team ermittelten. „Es explodierte förmlich“, berichten sie. „Dieser plötzlich Energieausbruch könnte daran liegen, dass sich in diesem Teil der Ostanatolischen Verwerfung die Spannungen von mehreren hundert Jahren aufgestaut hatten.“

Als Folge gab es dort auch den größten Bodenversatz: Auf einem 200 Meter langen Abschnitt der Verwerfung wurden zuvor gerade Feldwege, Felder und Zäune um 6,50 bis 6,70 Meter versetzt. Insgesamt riss die Ostanatolische Verwerfung auf einer Länge von rund 300 Kilometern auf.

Kettenreaktion im Untergrund

Doch wie kam es zum zweiten Beben? Normalerweise bewirkt ein Erdbeben, dass sich die Spannungen im Untergrund entladen. Die kollidierenden Platten ruckeln sich gewissermaßen wieder zurecht und schaffen sich so Luft für die weitere Drift. Dies war auch beim ersten Starkbeben des 6. Februar so: „Vereinfacht beschrieben machte die Arabische Platte einen Schritt nach Norden. Darauf reagierte die Anatolische Platte mit einem Sprung nach Westen“, erklären Meng und sein Team.

Damit war es jedoch nicht getan: „Sieben Stunden und 40 Minuten nach dem Hauptbeben kam es zu einem Nachbeben der Magnitude 4,5“, berichten die Forschenden. Dieser Erdstoß ereignete sich an der Kreuzung der Ostanatolischen Verwerfung mit einer weiteren tektonischen Schwächezone, der von Norden her einmündenden Çardak-Sürgü-Verwerfung. Und nur 86 Minuten nach diesem Nachbeben brach dort der Untergrund ebenfalls auf – es folgte das zweite Starkbeben.

„Dieser zeitliche Ablauf spricht dafür, dass das Starkbeben an der Çardak-Sürgü-Verwerfung ausgelöst wurde, weil sich durch das vorhergehende Starkbeben an der Ostanatolischen Verwerfung die Untergrundspannung, der Porendruck und andere Parameter verändert hatten“, erklären die Wissenschaftler. Die Schockwellen dieses zweiten Erdbebens breiteten sich weit schneller aus als beim ersten. Innerhalb von nur neun Sekunden rissen sie den Untergrund auf jeweils 55 Kilometer Länge in beiden Richtungen auf, wie Meng und seine Kollegen ermittelten.

Lehren für die Zukunft

Die Rekonstruktion dieser Zusammenhänge klärt nicht nur, wie und warum es im Februar 2023 gleich zwei Starkbeben so dicht hintereinander gab. Sie liefern auch wertvolle Einblicke in den Ablauf von Erdbeben im allgemeinen. So müssen die stärksten Erschütterungen und Untergrundbewegungen offenbar nicht am Epizentrum liegen. „Das wirft Fragen zur Interpretation historischer Erdbebenkataloge auf, weil diese wahrscheinlich den Ort der größten Zerstörungen als Bebenzentrum angeben, statt des Epizentrums“, so das Team.

Außerdem erklären die Ergebnisse, wie ein Beben von einer Verwerfung auf eine andere überspringen kann – und in welchem zeitlichen Rahmen dies geschieht. Das könnte die Risikovorhersagen für künftige Erdbeben verbessern helfen. (Science, 2024; doi: 10.1126/science.adj3770)

Quelle: Science

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