Unsere frühesten Vorfahren standen offenbar regelmäßig auf dem Speiseplan von großen Greifvögeln. Das schließen Anthropologen aus den Funden von Affenschädeln in den Nestern afrikanischer Adler. Gleichzeitig könnte dies auch erklären, wem das „Kind von Taung“, der berühmte 2,5 Millionen Jahre alte Schädel eines Vormenschen der Art Australopithecus africanus, zum Opfer gefallen ist.
Wissenschaftler um W. Scott McGraw, Professor für Anthropologie an der Ohio State Universität, untersuchten mehr als 1.200 Knochen aus 16 Nestern des afrikanischen Kronenadlers im Regenwald der Elfenbeinküste. Dabei zeigte sich, dass mehr als die Hälfte der Knochen von Primaten stammten. Zur Überraschung der Forscher waren mehr als ein Drittel davon sogar von Mangaben, der größten Affenart im Tai Regenwald. “Es scheint, als ob der Adler sich als Beute speziell diese großen, relativ seltenen Affen sucht“, erklärt McGraw. „Wenn wir die Dichte der durchschnittlichen Mangabenpopulation betrachten, ist die Chance einer zufälligen Begegnung zwischen Adler und Affe sehr klein.“ Die Funde deuten darauf hin, dass Greifvögel dieser Größe sehr wohl erfolgreich junge Primaten angreifen können.
Primaten als Adler-Beute
Die Löcher und Kratzer, die die Adler auf den Affenschädeln hinterließen, brachte die Forscher jedoch noch zu einer anderen Frage, die sie auch in ihrer Veröffentlichung im „American Journal of Physical Anthropology“ diskutierten: Was, wenn auch die frühen Menschen regelmäßig Opfer von Greifvögelattacken geworden wären. Muss das Spektrum der potenziellen Fressfeinde möglicherweise erweitert werden? Nach Ansicht von McGraw und seinen Kollegen schon. „Es scheint, als ob Greifvögel schon seit langer Zeit eine selektive Kraft in der Primatenevolution sind“, so McGraw. „Vor dieser Studie dachte ich nicht, dass Adler viel zur Mortalitätsrate von Primanten im Regenwald beitragen könnten. Aber ich hätte mich kaum mehr irren können.“
Fiel das Kind von Taung einem Adler zum Opfer?
Die Vogelspuren auf den neuzeitlichen Schädeln könnte auch eines der langjährigen Rätsel der Anthropologie lösen helfen: Denn das „Kind von Taung“, ein 1924 in einer südafrikanischen Höhle gefundener Schädel eines Australopithecus africanus, weist Löcher auf, die bisher immer einer Raubkatze zugeschrieben worden waren.
„Dieses Fossil ist vermutlich der am besten studierte, untersuchte und publizierte Hominidenschädel überhaupt“, so McGraw. „Es ist nicht so, dass die Schäden am Schädel bisher übersehen worden wäre, wir haben nur nicht die Verbindung gezogen, um sie zu erklären. Diese Spuren sind nicht von einer großen Raubkatze, sie stammen von einem vorzeitlichen Kronenadler.“
Schnabelspuren am Schädel
Der Forscher begründet seine These mit der spezifischen Form der Spuren an den fossilen Knochen: „Adler hinterlassen sehr eindeutige Schnabel- und Krallenspuren rund um das Gesicht und die Augenhöhlen. Der Schädel des Kinds von Taung zeigt die gleiche Art von Punktionsspuren.“ Auch die Größe des zum Todeszeitpunkt ungefähr dreieinhalb Jahre alten Kindes passt nach Ansicht des Forschers zu seiner Theorie. Denn mit rund zwölf Kilogramm Gewicht entspricht es durchaus der Größe der Beutetiere der heutigen Kronenadler, der Mangaben.
„Viele Leute dachten, dass ein Adler dieser Größe nicht genügend Kraft hätte, um einen Primaten von der Größe des Taung-Kindes hochzuheben“, so McGraw. „Aber das ist kein Thema, denn Adler jagen nicht auf diese Art. Typischerweise entbeinen sie ihre Beute sehr schnell und tragen nur Teile der Leiche zurück zu ihrem Nest.“
(Ohio State University, 30.08.2006 – NPO)