O’zapft is’ auf dem Oktoberfest und die ganze Stadt scheint im Rausch: Dirndl und Lederhosen sind dabei immer häufiger das Wiesn-Outfit der Wahl – und zwar nicht nur für die Münchner Schickeria. Trachten erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit, vor allem auch bei jungen Besuchern. Warum aber sind Dirndl, Lederhosen und Co. zu Beginn des 21. Jahrhunderts so angesagt? Eine Münchener Volkskundlerin hat sich mit dem „Phänomen Wiesntracht“ auseinandergesetzt – zum Teil mit verblüffenden Ergebnissen.
Simone Egger vom Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München sieht darin den starken Wunsch der mobilen Gesellschaft nach Identität. „Ich war überrascht, mit welchem Nachdruck die Bedeutung von Zugehörigkeit dabei zum Tragen kommt“, sagt die Kulturwissenschaftlerin. „Dabei gibt es die Wiesntracht als solche noch gar nicht allzu lange. Werte wie Heimat und Tradition werden aber gerade dann spürbar wichtiger, wenn Unsicherheit und Flexibilität weltweit anwachsen.“
Außergewöhnliche Anlässe erfordern eine außergewöhnliche Bekleidung – und das gilt nicht zuletzt auch für das Oktoberfest, das dieses Jahr noch bis zum 05. Oktober läuft. Egger teilt die Kleidung der Wiesngäste in drei große Gruppen ein: Alltags- und Freizeitbekleidung ist eine Kategorie – allerdings mit dem gewissen Etwas. „Auffällig sind dabei oft Kombinationen mit karierten Hemden oder Blusen“, so die Forscherin. „Man sieht auch viele um den Hals gebundene Schnupftücher oder anderes Zubehör mit alpenländisch anmutendem Dekor. Eine weitere Einheit bilden die Träger von Bierhüten, T-Shirts und Gruppenoutfits.“
Echte Trachten sind selten
Nicht zuletzt aber findet man auf dem Oktoberfest zunehmend häufiger Tracht – oder das, was dafür gehalten wird. In erster Linie sind das Dirndl und Lederhosen, die in dieser Kombination für eine breite Auffassung von traditioneller Kleidung stehen. Weitaus seltener werden nach historischen Bildern gefertigte Trachtenstücke auf der Theresienwiese getragen, so Egger. Nur am ersten Wiesnsonntag sind freilich viele Vereinsmitglieder wegen des Trachten- und Schützenzuges in der Stadt unterwegs.
Aber auch die Bedienungen in den Festzelten sind in der Regel entsprechend angezogen – und kommen so der historischen Bedeutung des „Dirndlgewandes“ wahrscheinlich am nächsten. Ursprünglich war das Dirndl schließlich nicht mehr als das Unterkleid der Magd, des „Dirndls“. Das eigentliche Dirndl mauserte sich dann gegen Ende des 19. Jahrhunderts vom Arbeitskittel zum Kleid für die Sommerfrische, das von Damen der Oberschicht getragen wurde.
Urbanes Festgewand
„Das Dirndl stand damit von Beginn an für eine städtische Vorstellung vom Land“, berichtet Egger. „Die Lederhose wurde dagegen tatsächlich von den Bauern übernommen und von den bayerischen Königen geadelt. Als ‚Phänomen-Wiesntracht’ verbinden sich Dirndl und Lederhosen heute zu einem urbanen Festgewand.“ Die Schnitte bleiben für die Lederhose gleich und variieren auch kaum bei den Dirndlgewändern: Das am Oberteil eng anliegende und ärmelfreie Kleid hat einen weit schwingenden Rock, dazu kommen Schürze und kurze Bluse. Aktuell sind kurze Lederhosen und tief ausgeschnittene Dirndl in Mode.
Mittlerweile lassen sich Trachten in allen erdenklichen Farben, Formen und Materialien erwerben. „Dabei kommt es in erster Linie auf die feinen Unterschiede an“, meint Egger. „Preiswerte Angebote ermöglichen generell jedem Besucher, dazuzugehören und gleichzeitig werden über Qualität, Stoff oder Rocklängen Grenzen gezogen. Ein teures Dirndl ist aber nicht ‚echter“ als ein billiges Baumwollkleid. Als Kulturwissenschaftlerin freue ich mich natürlich ganz besonders über den Variantenreichtum.“
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt
Und tatsächlich scheinen der Fantasie keine – vor allem auch keine zeitlichen – Grenzen gesetzt: Die seit einigen Jahren aktuelle Mode reicht von der schulterfreien „Carmen“-Variante der Dirndlbluse bis hin zur Lederhose für die Dame. Entfernt erinnert das Phänomen auch an das – scheinbar – neu gefundene und von der Jugend getragene Nationalgefühl bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2006. „Die Begeisterung bei diesem Ereignis hängt auch mit Fragen der Identifikation zusammen“, bestätigt Egger. „Sie folgt aber grundsätzlich anderen Mustern. Neben einem sich wandelnden Umgang mit Vergangenheit und Geschichte haben auch das Wetter, die Mannschaft und so einiges anderes eine Rolle für das Sommermärchen gespielt.“
Noch ein Unterschied: Der nationale Hype bei der WM ist relativ schnell wieder vergangen, während sich das Phänomen Wiesntracht zunehmend ausweitet. So hat Eggers Studie gezeigt, dass Besucher des Oktoberfestes die Anbindung an Raum und Zeit suchen. Auch oder gerade eine mobile Gesellschaft will Zugehörigkeit demonstrieren. Dabei kommt in Zeiten globaler Vernetzung dem Lokalen und Regionalen eine besondere Rolle zu, und München ist eine erfolgreiche sowie in der Gegenwart positiv bebilderte Stadt.
„Mit dem Oktoberfest verfügt die Isarmetropole außerdem über eine einzigartige Veranstaltung, die weltweit Aufmerksamkeit erzielt“, so Egger. „In Dirndl und Lederhosen hat nun jeder Gelegenheit, an Fest und Image teilzuhaben. Die Wiesntracht ist verknüpft mit dem Münchner Habitus und verweist auf eine spätmoderne Suche nach Identität. Der Begriff ‚Heimat’ spielt dabei eine große Rolle, aber auch ‚Tradition’ und ‚Authentizität’ kommen beständig zur Sprache.“
Wunsch nach Bestand und Zugehörigkeit
Die zunehmende Beliebtheit von Dirndl und Lederhosen auf dem Oktoberfest zeugt demnach von dem Wunsch nach Bestand und Zugehörigkeit – obwohl es die Wiesntracht als solche noch gar nicht lange gibt. Erst Ende der 1960er Jahre warb ein Münchner Bekleidungshaus erstmals mit einem ‚schmeichelnden Dirndl’, und 1972 trugen die Hostessen auf der Olympiade kurze hellblaue Dirndlkleider, was dem Miederrock zu einer ungeheuren Popularität verholfen hat. Seither taucht das Phänomen immer wieder in Wellen auf.
Die aktuell herrschende Begeisterung für die Wiesntracht hat etwa im Jahre 2000 angefangen. Die Wahl der Trachtenkleidung scheint aber nicht auf einem modischen Trend alleine zu gründen, sondern auf tiefer gehende Befindlichkeiten der Akteure zu verweisen. Und wie hält es die Münchner Volkskundlerin selbst mit der Wiesntracht? „Ich gehe gern zum Oktoberfest“, sagt Egger, die soeben ein Buch zum Thema „Phänomen Wiesntracht“ veröffentlicht hat. „Allerdings eher selten im Dirndl. Ich beschäftige mich so intensiv mit der Thematik, dass ich lieber etwas Distanz wahre.“
(LMU München, 25.09.2008 – DLO)