Mysteriöses Leck: Die Atmosphäre der Erde ist „undicht“ – sie verliert täglich tonnenweise Sauerstoff an den umgebenden Weltraum. Wie genau dieser Ausstrom geschieht und welche Rolle dabei bestimmte Polarlichter spielen, untersuchen NASA-Forscher zurzeit auf Spitzbergen mit Messraketen. Sie sollen erstmals genauer ermitteln, wie viel Sauerstoff auf der Tagseite der Erde verloren geht – und es gibt erste Ergebnisse.
Die Atmosphäre unseres Planeten ist eine wichtige Voraussetzung für Leben. Doch die irdische Gashülle ist trotz schützendem Magnetfeld auch Einflüssen aus dem Weltraum ausgesetzt. Diese führen dazu, dass ständig kleinere Mengen an Gasen in All hinaus diffundieren – immerhin mehrere hundert bis tausend Tonnen pro Tag. Zwar sorgen biologische Prozesse wie die Photosynthese der Pflanzen dafür, dass dieser Verlust größtenteils ausgeglichen wird. Dennoch verliert die Atmosphäre ganz langsam an Masse.
Das Rätselhafte jedoch: Sauerstoff ist eigentlich ein relativ schweres Gas – und müsste daher von der Erdschwerkraft festgehalten werden. „Um der Erdanziehungskraft zu entkommen, müsste der Sauerstoff etwa die hundertfache Energie aufbringen, die dieses Gas normalerweise besitzt“, erklärt Douglas Rowland vom Goddard Space Flight Center der NASA. „Es dürften daher nur winzige Anteile des Sauerstoffs entweichen.“
Polarlichter und Sauerstoff-Fontänen
Doch das scheint nicht der Fall: Als Wissenschaftler in den 1960er und 1970er Jahren erste Messungen in der oberen Atmosphäre und an der Grenze zum Weltall durchführten, entdeckten sie dort weit mehr Sauerstoff als man erwartet hatte. „Aber wie kam er dahin? Man benötigt bestimmte Prozesse, die dem Sauerstoff genügend Energie zuführen, damit er in diese Höhen gelangen und entkommen kann“, sagt Rowland.
Eine Erklärung für dieses Mysterium fanden die Wissenschaftler vor einigen Jahren: die Polarlichter. Denn diese erzeugen nicht nur faszinierende Leuchterscheinungen am Himmel, sie bringen auch energiereiche Teilchen und elektrische Ströme mit sich, die die obere Atmosphäre aufheizen. Diese Hitze ist an manchen Stellen ausreichend, um dem Sauerstoff den nötigen Energieschub zu verleihen. Vor allem auf der Nachtseite der Erde und in Polnähe können Auroren so wahre Fontänen vom atmosphärischen Gasen ins All katapultieren, wie Messungen ergaben.
Von Spitzbergen in die Leckzone
Doch was ist auf der Tagseite? Gibt es auch dort diese Sauerstoff-Fontänen? Um das herauszufinden, haben die NASA-Forscher im Rahmen des Projekts VISIONS-2 von Spitzbergen aus eine erste Messrakete in All gestartet. Sie misst Gaskonzentrationen, Teilchenströme und elektrische Parameter und kann so Daten dazu liefern, was dort oben geschieht. Eine zweite Rakete soll demnächst folgen.
Das Entscheidende dabei: Spitzbergen liegt fast direkt unter einer Art polaren Einfallstor im Erdmagnetfeld, dem sogeannte polar Cusp. In dieser Zone können Teilchen des Sonnenwinds weiter als irgendwo sonst in die Erdatmosphäre vordringen. Dies erzeugt auch während des Tages Polarlichter – und damit mögliche „Fahrstühle“ für den atmosphärischen Sauerstoff. Die Forscher vermuten, dass über diese polaren Magnetbrücken besonders viel Sauerstoff ins All ausgasen könnte.
„Atmosphärische Fontäne“ auch auf der Tagseite
Die vorläufigen Ergebnisse der ersten Messrakete scheinen dies zu bestätigen: „Ich denke, dass wir die ‚atmosphärische Fontäne‘ in den Daten gesehen haben“, berichtet Rowland. Aber noch sind weitere Analysen nötig. Dabei geht es Forschern auch darum, die Unterschiede zwischen den Lecks auf der Nachtseite der Erde und dem Gasverlust im polaren Scheitelpunkt der Tagseite zu ergründen.
„Der Ionen-Ausstrom in diesem Scheitelpunkt der Tagseite ist stetiger und hat eine niedrigere Energie als auf der Nachtseite“, sagt Rowland. „Zudem sind die Bedingungen in dieser Zone anders als an den Leckstellen der Nachtseite – wir suchen daher nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Die Ergebnisse dieser noch andauernden Messungen sind nicht nur für unseren eigenen Planeten interessant, sondern könnten auch helfen, die Entwicklung von Exoplaneten oder auch unseres Nachbarn Mars besser zu verstehen.
Quelle: NASA/GSFC