Milliarden Jahre und 300 Milliarden kosmische Objekte: Astronomen haben die Entwicklung unseres Universums seit dem Urknall in der bisher umfangreichsten Simulation nachvollzogen. Ihr Modell umfasst erstmals sowohl normale Materie als auch Dunkle Materie und Neutrinos. Dies erlaubt es erstmals, den Einfluss ihrer Interaktionen und verschiedener kosmologischer Parameter auf grundlegende Merkmale unseres Universums zu testen. Das soll helfen, noch immer rätselhafte Diskrepanzen in der Materiedichte und der kosmischen Expansion aufzuklären.
Wie wurde unser Universum zu dem, was es heute ist? Und welche Mechanismen prägten seine Entwicklung? Bisher sind diese Fragen erst in Teilen geklärt, weil astronomische Beobachtungen allein oft nur unzureichende Antworten liefern. Deshalb greifen Astronomen auf kosmologische Simulationen zurück. In solchen Modellen lässt sich die Entwicklung des Kosmos und seiner Strukturen wie im Zeitraffer nachvollziehen und physikalischen Parameter lassen sich gezielt variieren.
Das Problem jedoch: Solche Kosmos-Simulationen erfordern eine enorme Rechenleistung – mehr als selbst leistungsstarke Supercomputer in vertretbarer Zeit erbringen können. Deshalb erfassen viele solcher Modelle entweder nur kleine Ausschnitte des Universums oder sie modellieren nur die Entwicklung bestimmter Aspekte – beispielsweise nur der Dunklen Materie oder nur der Galaxien.
Größte hydrodynamische Simulation des Kosmos
Jetzt haben Astronomen eine ganze Suite von kosmologischen Simulationen entwickelt, die die Entwicklung der Dunklen Materie, der normalen Materie und der Neutrinos sowie ihre Interaktionen in hoher Auflösung abbilden kann. Die FLAMINGO-Simulationen umfassen mehrere Untermodelle, die bis zu zehn Milliarden Lichtjahre große Ausschnitte des Universums mit mehr als 300 Milliarden einzelnen Elementen darstellen können. Deren Entwicklung kann das System über die gesamte Lebensdauer des Kosmos rekonstruieren.
„Dies macht sie zur größten jemals durchgeführten hydrodynamischen Simulation des Kosmos vom Urknall bis heute“, erklärt das Team um Joop Schaye von der Universität Leiden. Möglich wurde dies, weil die Astronomen in ihre Methoden auch maschinelles Lernen und spezielle Rechenroutinen integrierten: „Wir haben einen neuen Code entwickelt, SWIFT, der die erforderliche Computerarbeit sehr schnell auf die rund 30.000 Prozessoren verteilt“, erklärt Schayes Kollege Matthieu Schaller.
Variable Parameter und Interaktionen
Ebenfalls neu an der Simulation: In mehreren unterschiedlich großen Ausschnitten des Kosmos lassen sich die physikalischen Parameter und Anfangsbedingungen an verschiedene Beobachtungsdaten variieren. So kann beispielsweise die Gasdichte in Galaxienhaufen, die Rückkopplung von Teilchenströmen auf aktive Galaxienkerne oder der Effekt von galaktischen Winden angepasst werden. Das erlaubt es auch, verschiedene theoretische Modelle zu überprüfen.
Wichtig ist dies unter anderem deshalb, weil einige Parameter und kosmische Prozesse erst in Teilen experimentell oder über Beobachtungsdaten bestimmt sind. So ist beispielsweise die Masse der Neutrinos, die unter anderem bei Supernovae und Zerfallsprozessen freigesetzt werden, bisher nur auf eine Obergrenze eingegrenzt, nicht aber genau bestimmt. Bei anderen Parametern, wie beispielsweise der Ausdehnungsrate des Kosmos oder der Materieverteilung, gibt es sich widersprechende Ergebnisse.
Lösungshilfe für kosmologische Rätsel?
Einige dieser Diskrepanzen haben die Astronomen in ersten Tests ihrer FLAMINGO-Simulation bereits näher analysiert. Im Speziellen untersuchten sie bisher rätselhafte Diskrepanzen in der Homogenität der Dichteverteilung von normaler und Dunkler Materie zwischen astronomischen Beobachtungen und den vom Standardmodell vorhergesagten und in der kosmischen Hintergrundstrahlung messbaren Werten.
Das Ergebnis: Trotz einer breiten Spanne von simulierten astrophysikalischen Parametern, bleiben die Spannungen zwischen dem kosmologischen Standardmodell und den aus Beobachtungen abgeleiteten Werte bestehen, wie das Team berichtet. Auch in ihren Simulationen konnten sie die beobachteten Effekte nicht reproduzieren – zumindest nicht durch bloße Veränderungen von Faktoren wie der Neutrinomasse oder der Wechselwirkung verschiedener Phänomene und Objekte.
Die Astronomen hoffen aber, durch weitere Simulationsdurchgänge und Abwandlungen der Parameter, dem Grund für diese rätselhaften Diskrepanzen auf die Spur zu kommen. (Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2023; doi: 10.1093/mnras/stad2419; doi: 10.1093/mnras/stad3107)
Quelle: Royal Astronomical Society, Netherlands Research School for Astronomy (NOVA)