Galaktischer Exot: Unsere Milchstraße passt nicht in ihre kosmische Umgebung – sie ist zu massereich und groß, wie eine Simulation der Galaxienentwicklung enthüllt. Demnach liegt unsere Heimatgalaxie in einem lokalen Galaxienfilament, das eigentlich ihr Heranwachsen gebremst haben müsste. Die Wahrscheinlichkeit, in einer solchen Umgebung eine so massereiche Galaxie zu finden, liege bei weniger als einem Millionstel, berichten die Astronomen. Warum unsere Heimatgalaxie dieser Wahrscheinlichkeit trotzte, ist noch unklar.
Auf den ersten Blick ist unsere Milchstraße nichts Besonderes: Sie ist eine Spiralgalaxie mit durchschnittlicher Masse und Größe – im Universum gibt es unzählige sehr ähnliche Sternenansammlungen. Wie die meisten Galaxien im Kosmos ist die Milchstraße zudem Teil größerer Strukturen: Sie gehört zur Lokalen Gruppe und ist von einem „Rat der Riesen“ umgeben: einem Ring von zwölf großen Galaxien, wie Astronomen im Jahr 2014 entdeckten.
Alle Galaxien und Supercluster in unserer näheren kosmischen Umgebung sind außerdem nicht zufällig angeordnet, sondern bilden eine Art Filament, die Lokale Ebene. Diese durchzieht als „kosmologischer Wall“ aus Galaxien und Dunkler Materie die angrenzenden kosmischen Leerzonen, die Voids. „Die Milchstraße liegt direkt am Rand einer solchen kosmischen Klippe“, erklären Miguel Aragón von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos und seine Kollegen.
Wie „normal“ ist die Milchstraße?
Doch wie beeinflusst die Zugehörigkeit zu einem solchen kosmologischen Wall die Entwicklung von Galaxien? Ist die Milchstraße auch in dieser Hinsicht „ganz normal“? Bisherige Beobachtungen legten nahe, dass die Schwerkraft-Interaktionen in solchen Strukturen auch Bewegung und Wachstum von Galaxien prägen. Ob dies auch bei der Milchstraße der Fall war, haben Aragon und sein Team nun mithilfe der IllustrisTNG-Simulation untersucht, der zurzeit hochauflösendsten und umfassendsten Simulation der Galaxienentwicklung.
Für ihre Studie rekonstruierten die Astronomen die Galaxienbildung in einem fast eine Milliarde Lichtjahre großen Ausschnitt des Universums – genug, um Millionen von Galaxien zu enthalten. „Damit hat die Simulation die nötige Größe, um auch Entwicklungen in kosmologischen Wällen abzubilden“, erklärt das Team.
Nur eine unter Millionen
Die Simulation ergab Überraschendes: Unter den Millionen von Galaxien gab es nur sehr wenige, die so groß waren die Milchstraße und trotzdem in einen lokalen Galaxienwall eingebettet waren. „Die Wahrscheinlichkeit für ein Milchstraßenanalog in einer solchen Umgebung liegt zwischen 0,001 und 0,2 Prozent“, berichten die Astronomen. Nur eine einzige Galaxie im Modellausschnitt erreichte die Masse und Größe der Milchstraße, wenn sie Teil eines solchen kosmologischen Strangs war.
„Man müsste fast eine halbe Milliarde Lichtjahre weit reisen, bevor man einen anderen kosmologischen Wall mit einer Galaxie wie der unsrigen finden würde“, erklärt Aragon. Würde man die Milchstraße und ihre fast gleichgroße Nachbarin, die Andromedagalaxie, zusammen betrachten, ist das Ganze sogar noch viel seltener. „Man bräuchte dann einen noch weit größeren Ausschnitt des Universums, um auch nur ein Beispiel dafür zu finden.“
Gewöhnlich und doch ein Exot
Das bedeutet: Unsere Milchstraße ist für ihre kosmische Umgebung eigentlich zu groß und schwer. „Dieses Merkmal – zu groß für ihren kosmologischen Wall – ist physikalisch bedeutsam und relevant genug, um die Milchstraße als etwas wirklich Besonderes zu bezeichnen“, sagt Koautor Mark Neyrinck von der Universität des Baskenlands. Betrachtet man unsere Heimatgalaxie im Kontext ihrer Umgebung ist sie demnach selbst nach kosmischen Maßstäben ein ziemlicher Exot.
Warum ausgerechnet die Milchstraße größer geworden ist als die meisten anderen Galaxien unter gleichen Umständen, ist bisher unklar. Die Astronomen vermuten aber, dass möglicherweise die vielen Kollisionen im Verlauf ihrer Entwicklung dafür eine Rolle spielten. (Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2023; doi: 10.1093/mnrasl/slac161)
Quelle: Royal Astronomical Society