Kein unsichtbarer Dritter: Das erst 2020 entdeckte erdnächste Schwarze Loch ist in Wirklichkeit keins, wie nun neue Beobachtungen enthüllen. Stattdessen erzeugt offenbar ein Fall von „stellarem Vampirismus“ im Doppelsternsystem HR 6819 das irreführende Signal: Einer der Sterne hat seinem Partner fast die gesamte Hülle abgesaugt. Dadurch rotiert dieser ungewöhnlich schnell und das ihn lose umgebende Material erzeugt die unklaren Merkmale im Lichtspektrum.
Stellare Schwarze Löcher sind die Relikte massereicher Sterne, die in einer Supernova explodiert sind. Insofern liegt es nahe anzunehmen, dass es auch in unserer näheren kosmischen Umgebung solche Sternenrelikte gibt. Das Problem jedoch: Wenn die Schwarzen Löcher nicht gerade aktiv Materie einsaugen und dadurch Strahlung freisetzen, sind sie unsichtbar. Entsprechend schwer sind solche stillen Schwarzen Löcher nachzuweisen.
Verborgener Begleiter – oder doch nicht?
Doch im Mai 2020 vermeldeten Astronomen um Thomas Rivinius von der Europäischen Südsternwarte (ESO) einen „Fahndungserfolg„: In dem nur 1.000 Lichtjahre entfernten System HR 6819 hatten sie neben zwei normalen Sternen auch Hinweise auf einen unsichtbaren Dritten aufgespürt. Den Spektraldaten zufolge umkreist dort einer der Sterne ein vier Sonnenmassen schweres Schwarze Loch in 40 Tagen, ein zweiter Stern umkreiste beide ein weiter Entfernung – so die Interpretation des Teams.
Allerdings: Schon wenig später weckten weitere Beobachtungen durch ein Team der Katholischen Universität Leuven um Julia Bodensteiner Zweifel an dieser Auslegung. Ihre Daten legten nahe, dass HR 6819 auch aus nur zwei sich eng umkreisenden Sternen bestehen könnte – ohne ein inaktives Schwarzes Loch als Partner. Die Auffälligkeiten im Lichtspektrum müssten dann auf einen schnell rotierenden Be-Stern zurückgehen – einen Stern, der von losen, starke Strahlung ausendenden Hüllenresten umgeben ist.
Neue Spurensuche
Das Problem jedoch: „Wir hatten die Grenze der vorhandenen Daten erreicht, so dass wir eine andere Beobachtungsstrategie anwenden mussten, um zwischen den zwei von den beiden Teams vorgeschlagenen Szenarien zu entscheiden“, erklärt Erstautorin Abigail Frost von der KU Leuven. Beide Astronomenteams taten sich daher zusammen, um HR 6819 noch einmal mit den Spektrografen MUSE und GRAVITY am Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte in Chile zu untersuchen.
Erst die vier zusammengekoppelten Teleskope des Observatoriums lieferten die nötige Auflösung, um die Merkmale des Mehrfachsystems abzubilden. „Das VLTI war die einzige Einrichtung, die uns die entscheidenden Daten liefern konnte, die wir brauchten, um zwischen den beiden Erklärungen zu unterscheiden“, sagt Koautor Dietrich Baade von der ESO.
Rivinius ergänzt: „Die Szenarien, nach denen wir suchten, waren ziemlich klar, sehr unterschiedlich und mit dem richtigen Instrument leicht zu unterscheiden. Wir waren uns einig, dass es in dem System zwei Lichtquellen gibt. Die Frage war also, ob sie einander eng umkreisen, wie im Szenario des abgestreiften Sterns, oder weit voneinander entfernt sind, wie im Szenario des Schwarzen Lochs.“
Stellarer Vampir statt Schwarzes Loch
Die neuen Beobachtungen enthüllten: Im System HR 6819 gibt es offenbar tatsächlich kein Schwarzes Loch. „MUSE bestätigte, dass es keinen hellen Begleiter in einer weiteren Umlaufbahn gab, während die hohe räumliche Auflösung von GRAVITY in der Lage war, zwei helle Quellen aufzulösen, die nur durch ein Drittel der Entfernung zwischen Erde und Sonne getrennt waren“, sagt Frost. „Diese Daten erlaubten uns die Schlussfolgerung, dass HR 6819 ein Doppelsternsystem ohne Schwarzes Loch ist.“
Wie aber sind dann die Auffälligkeiten in den Spektraldaten zu erklären? Wie schon zuvor von Bodensteiner und ihrem Team vermutet, ist einer der beiden Partnersterne in diesem System offenbar ein „Vampir-Stern“. Er hat seinem Partner große Teile der Hülle abgesaugt. „Es ist extrem schwierig, eine solche Phase nach dem Austausch zu erfassen, da sie so kurz ist“, erläutert Frost.
Die Fahndung geht weiter
Auch wenn sich demnach in diesem Sternsystem kein stilles Schwarzes Loch verbirgt, ist es astronomisch trotzdem ein spannender Fall: „Das macht unsere Ergebnisse für HR 6819 sehr aufregend, denn er ist ein perfekter Kandidat, um zu untersuchen, wie dieser Vampirismus die Entwicklung massereicher Sterne beeinflusst und damit auch die Entstehung der damit verbundenen Phänomene wie Gravitationswellen und heftigen Supernovaexplosionen“, sagt Frost.
Die Astronomen wollen HR 6819 daher weiter beobachten, um die Entwicklung dieses stellaren Vampirismus besser zu verstehen. Aber auch die Suche nach nahen Schwarzen Löchern geben sie nicht auf: „Schätzungen von Größenordnungen deuten darauf hin, dass es allein in der Milchstraße Dutzende bis Hunderte von Millionen schwarzer Löcher gibt“, sagt Baade. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis eines von ihnen auch in unserer kosmischen Umgebung aufgespürt wird. (Astronomy & Astrophysics, 2022; doi: 10.1051/0004-6361/202143004)
Quelle: European Southern Observatory (ESO)