Stellarer Fremdling: Astronomen haben im innersten Milchstraßen-Zentrum einen Stern ungewöhnlicher Herkunft entdeckt – er stammt nicht aus unserer Galaxie. Der S0-6 getaufte Stern kreist zwar heute dicht am Schwarzen Loch der Milchstraße, entstanden ist er jedoch mehr als 50.000 Lichtjahre entfernt in einer benachbarten Zwerggalaxie, wie spektroskopische Analysen enthüllten. Indizien für diese extragalaktische Herkunft sind eine ungewöhnliche Zusammensetzung sowie das hohe Alter des Sterns von mehr als zehn Milliarden Jahren.
Das Zentrum unserer Milchstraße ist ein hoch dynamischer Ort: Die enorme Gravitationswirkung des supermassereichen Schwarzen Lochs Sagittarius A* lässt die zentralen Sterne im Rekordtempo um seine Schwerkraftsenke kreisen und verändert ihr Licht und ihre Bahnen messbar. Beobachtungen zeigen zudem, dass in diesem dichten Sternengewimmel einige der ältesten Sterne der Milchstraße liegen, aber überraschenderweise auch einige Protosterne – trotz der eigentlich eher widrigen Umstände.
Blick auf die innersten Sterne
Jetzt haben Astronomen eine weitere Entdeckung im Milchstraßenzentrum gemacht. Shogo Nishiyama von der Miyagi Universität in Sendai und sein Team hatten für ihre Studie einige der sogenannten S-Sterne im Milchstraßenzentrum über acht Jahre hinweg verfolgt und spektroskopisch untersucht. Diese Sterne kreisen weniger als 0,13 Lichtjahre vom Ereignishorizont des Schwarzen Lochs Sagittarius A* entfernt und stehen unter einem entsprechend starken Schwerkrafteinfluss.
„Die S-Sterne sind ein einzigartiger Testfall für die Auswirkungen der starken Gravitation um supermassereiche Schwarze Löcher“, erklären Nishiyama und seine Kollegen. Wegen der extremen ‚Schwerkraft-Bedingungen vermuten Astronomen schon länger, dass die meisten Sterne der zentralen Gruppe wahrscheinlich nicht vor Ort entstanden, sondern weiter außen gebildet wurden und erst nachträglich in die Nähe von Sagittarius A* gezogen wurden. Allerdings ist bislang unklar, woher genau diese Sterne einst kamen.
Ungewöhnlich alt und metallarm
Eine überraschende Antwort liefert nun einer der S-Sterne mit der Bezeichnung S0-6. Er kreist nur rund 0,04 Lichtjahre vom zentralen Schwarzen Loch entfernt und gehört zu den wenigen Roten Riesen im Milchstraßenzentrum. Durch Analysen des Lichtspektrums haben Nishiyama und sein Team ermittelt, dass Stern S0-6 schon mehr als zehn Milliarden Jahre alt sein muss und damit zu den ältesten Sternen seiner Nachbarschaft gehört.
Doch dieser S-Stern weist noch eine Besonderheit auf: S0-6 enthält weniger schwere Elemente als alle bisher in diesem Umfeld analysierten Sterne – er ist extrem metallarm. Das bestätigt nicht nur, dass er schon sehr früh im Kosmos entstand, dieser Stern ist auch ein stellarer Exot: „Die chemische Zusammensetzung und das hohe Alter deuten darauf hin, dass S0-6 eine andere chemische Entwicklung durchlaufen hat als die Sterne im Zentrum unserer Galaxie“, berichten die Astronomen.
Zusammensetzung spricht für extragalaktischen Ursprung
Doch was heißt das konkret? Um mehr über den Ursprung des Sterns S0-6 herauszufinden, verglichen Nishiyama und sein Team die spektrale Signatur dieses Roten Riesen mit der von Sternen aus verschiedenen Gegenden der Milchstraße, aber auch mit Sternen benachbarter Zwerggalaxien wie der Großen Magellanschen Wolke, der Sagittarius-Zwerggalaxie oder der Sculptor-Galaxie.
Das Ergebnis: S0-6 ähnelt den Sternen in der Magellanschen Wolke oder der Sagittarius-Zwerggalaxie mehr als seinen stellaren Artgenossen in der Milchstraße, wie die Astronomen ermittelten. Ihrer Ansicht nach legt dies nahe, dass der Stern S0-6 ursprünglich extragalaktischen Ursprungs war. Trotz seiner heutigen Position im innersten Kern der Milchstraße muss er vor mehr als zehn Milliarden Jahren in einer der urzeitlichen Zwerggalaxien unserer kosmischen Nachbarschaft entstanden sein.
50.000 Lichtjahre gereist – mindestens
Damit könnte S0-6 der erste Stern aus der zentralen Gruppe der Milchstraße sein, für den eindeutig ein extragalaktischer Ursprung nachgewiesen wurde, wie die Astronomen berichten. Das bedeutet: Im Laufe seiner mehr als zehn Milliarden Jahre langen Existenz muss der Stern S0-6 eine Strecke von mindestens 50.000 Lichtjahren zurückgelegt haben – wahrscheinlich noch deutlich mehr. Denn typischerweise bewegen sich nach innen driftende Sterne und Sternhaufen auf einer spiraligen Route ins galaktische Zentrum.
Woher der uralte Stern S0-6 einst kam und auf welchem Wege er ins Milchstraßenzentrum gelangte, ist allerdings noch offen. Es ist zudem durchaus möglich, dass dieser Stern nicht der einzige extragalaktische Einwanderer an unserem Schwarzen Loch ist. „Wir hoffen, dass wir mit weiteren Untersuchungen die Rätsel dieser Sterne im Umfeld des supermassereichen Schwarzen Lochs lösen können“, sagt Nishiyama. (Proceedings of the Japan Academy, Series B, 2023; doi: 10.2183/pjab.100.007)
Quelle: National Astronomical Observatory of Japan