Sternenbeben, stellare Wanderungen und die größte chemische Karte der Milchstraße: Astronomen haben die bisher umfangreichste Datensammlung der europäischen Gaia-Mission veröffentlicht – und liefern damit einzigartige neue Einblicke in die Struktur und Entwicklung unserer Milchstraße. Der neue Katalog enthält Daten zur Bewegung, Temperatur, Chemie und Alter von fast zwei Milliarden Sternen, außerdem Kartierungen von Asteroiden im Sonnensystem und Galaxien außerhalb der Milchstraße.
Seit 2013 durchmustert das europäische Gaia-Weltraumteleskop die Milchstraße von seinem Posten rund 1,5 Millionen Kilometer hinter der Erde aus. Mit mehreren Teleskopen und Sensoren beobachtet Gaia hunderte kosmischer Objekte pro Sekunde und sammelt Informationen über ihre Entfernung, ihr Spektrum und ihre Bewegung. Ziel der Mission ist es, die Milchstraße so genau und vollständig wie möglich in drei Dimensionen zu kartieren.
In den letzten Jahren hat die Gaia-Mission schon mehrfach aktualisierte Sternenkataloge veröffentlicht. Auf der Basis dieser Daten haben Astronomen unter anderem den Stammbaum der Milchstraße rekonstruiert und Wanderungen von Sternen und den „Diebstahl“ extragalaktischer Sterne aufgeklärt.
Detailliertere Daten zu 1,8 Milliarden Sternen
Jetzt gibt es einen neuen, noch vollständigeren Gaia-Datensatz. Er enthält neue Details zu den rund 1,8 Milliarden Sternen, die im vorläufigen dritten Sternenkatalog von 2020 enthalten waren. Dank der spektroskopischen Messungen des Satelliten sind darunter nun auch Daten zur chemischen Zusammensetzung, den Sterntemperaturen, Farben, Massen sowie dem Alter und der Geschwindigkeit, mit der sich Sterne auf uns zu oder von uns weg bewegen.
„Ein weiteres Highlight ist die größte Zählung von Doppelsternsystemen in der Milchstraße, die bislang stattgefunden hat und die von entscheidender Bedeutung ist, um die Entstehung von Sternen zu verstehen“, sagt Alessandra Roy, Gaia-Projektleiterin beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Auch tausende von Objekten des Sonnensystems wie Asteroiden und Monde von Planeten sowie Millionen von Galaxien und Quasaren außerhalb der Milchstraße sind im neuen Datensatz enthalten.
Die chemische DNA der Milchstraße
Mit dem neuen Datensatz enthüllt Gaia die größte chemische Karte unserer Galaxie. Sie zeigt die Elementzusammensetzung von Sternen und ihre Verteilung von der engen Nachbarschaft der Sonne bis in die fernsten Außenbereiche der Milchstraße. Weil das interstellare Medium in der Frühzeit des Kosmos weniger schwere Elemente enthielt als heute, erlaubt der „Metallgehalt“ der Sterne auch Rückschlüsse über den Zeitpunkt ihrer Entstehung und ihre Herkunft.
„Gaias chemische Kartierung ist mit der Sequenzierung des menschlichen Genoms vergleichbar“, erklärt George Seabroke vom University College London. „Je mehr Sterne wir chemisch charakterisieren können, desto besser können wir auch unsere Galaxie als Ganzes verstehen. Die aktuelle chemische Katalog umfasst sechs Millionen Sterne und ist damit zehnmal umfangreicher als alle früheren erdbasierten Kataloge – das ist wirklich revolutionär.“
Die Gaia-Daten zeigen unter anderem, dass die im Zentrum und in der Haupteben der Milchstraße liegenden Sterne metallreicher sind als weiter außen liegende Himmelskörper. Anhand der chemischen Zusammensetzung können Astronomen zudem nun Sterne identifizieren, die ursprünglich aus anderen Galaxien stammen. „Unsere Galaxie ist ein wunderschöner Schmelztiegel von Sternen“, sagt Alejandra Recio-Blanco vom Observatorium der Côte d’Azur. „Diese Vielfalt ist extrem wichtig, denn sie offenbart die Migrationsprozesse innerhalb unserer Galaxie und die Akkretion aus externen Galaxien.“
Schwingende Sterne
Zu den überraschendsten Entdeckungen in den neuen Daten gehört, dass der Gaia-Satellit sogar Sternenbeben detektieren kann – winzige Bewegungen auf der Oberfläche eines Sterns, die seine Form verändern. So hat das Observatorium schon zuvor radiale Schwingungen nachgewiesen, die Sterne regelmäßig anschwellen und schrumpfen lassen. Jetzt hat Gaia auch nicht-radiale Schwingungen entdeckt, die die gesamte Form des Stern verändern. Sie laufen wie ein gewaltiger Tsunami einmal durch den Stern hindurch.
Solche nicht-radialen Sternenbeben hat das Teleskop nun bei tausenden von Sternen nachgewiesen, darunter auch einigen, bei denen sie den Modellen zufolge eigentlich nicht auftreten dürften. „Sternenbeben lehren uns eine Menge über die Sterne, insbesondere über ihr Innenleben. Gaia ist eine Goldgrube für die ‚Asteroseismologie‘ massereicher Sterne“, sagt Conny Aerts von der Katholischen Universität Leuven in Belgien.
Sternenwanderung., Doppelsterne und Asteroiden
Wie schon die früheren Gaia-Sternenkataloge zeigt auch dieser neue Datensatz die Bewegungen von gut 30 Millionen Sternen über den Himmel sowie ihre Radialgeschwindigkeit – die Geschwindigkeit, mit der sie auf uns zu oder von uns weg fliegen. Dadurch können Astronomen die dreidimensionale Bewegung dieser Sterne im Detail analysieren. Dies erlaubt Rückschlüsse beispielsweise auf ihren Entstehungsort, ihre Migration oder auch nahe Passagen an anderen Sternsystemen.
Ebenfalls im Gaia-Datensatz enthalten ist ein neuer Katalog von mehr als 800.000 Doppelsternsystemen in der Milchstraße sowie eine neue Asteroidenkartierung, die die Position und Bewegung von 156.000 steinigen Objekten in unserem Sonnensystem erfasst. Auch nähere Informationen über zehn Millionen veränderliche Sterne, den Staub im interstellaren Medium sowie über Quasare und Galaxien außerhalb unserer Galaxie sind im Datenpaket enthalten.
Gespannt auf neue Entdeckungen
„Anders als bei anderen Missionen, die auf bestimmte Objekte abzielen, handelt es sich bei der Mission Gaia um eine Durchmusterungsmission. Das bedeutet, dass Gaia zwangsläufig Entdeckungen machen wird, die anderen, spezielleren Missionen entgehen“, sagt Timo Prusti, von der Europäischen Weltraumagentur ESA. „Das ist eine ihrer Stärken, und wir können es kaum abwarten, dass die Astronomen in die neuen Daten eintauchen und noch mehr über unsere Heimatgalaxie und ihre Umgebung herausfinden.“ (Gaia Data Release 3, 2022)
Quelle: European Space Agency (ESA)