Merkwürdige Diskrepanz: Die Rotation ferner Galaxien passt nicht den zu gängigen Erwartungen. Denn das Rotationstempo dieser Sternenscheiben nimmt selbst im Außenbereich nicht ab, sondern bleibt nahezu gleich, wie neue astronomische Messungen enthüllen. Das widerspricht gängigen Modellen des Galaxienverhaltens und könnte auf Diskrepanzen in der Dunklen Materie hindeuten, wie Astronomen berichten. Denkbar wäre sogar, dass unser kosmologisches Modell daneben liegt.
Nahezu alle Galaxien drehen sich um sich selbst und verleihen so ihrer Struktur die nötige Stabilität. Wie schnell eine Galaxie rotiert und wie das Rotationstempo innerhalb ihrer Scheibe verteilt ist, hängt unter anderem von ihrer Masse dem Anteil der Dunklen Materie ab. Je größer und massereicher eine Galaxie ist, desto schneller dreht sie sich. Diesen Zusammenhang beschreibt unter anderem die Tully-Fischer-Beziehung. Die Umlaufzeit ihres Außenrands ist dadurch bei fast allen Galaxien gleich – rund eine Milliarde Jahre.
Die Präsenz der Dunklen Materie im Halo von Galaxien erzeugt dabei eine charakteristische Signatur in ihrer Rotationskurve. Dabei bleibt das Rotationstempo von innen nach außen zunächst fast gleich hoch, fällt dann aber nach außen hin ganz allmählich ab.
Gravitationswirkung als Messhilfe
Doch wie weit reicht der flache Teil der Rotationskurve? Und wie ausgeprägt ist anschließend das Absinken? Weil der Außenrand von fernen Galaxien wegen seiner Sternen- und Gasarmut schwer zu beobachten ist, blieb dies bislang unklar. Deshalb haben Tobias Mistele von der Caste Western Reserve University in Cleveland und seine Kollegen nun einen „Trick“ genutzt: Sie beobachteten den Gravitationslinsen-Effekt von Galaxien auf ihren Hintergrund.
Dabei verzerrt die Schwerkraft der Vordergrundgalaxie das durch ihre Einflusssphäre hindurchstrahlende Licht. Aus dem Ausmaß und der Form der Verzerrung können Astronomen mithilfe bestimmter Gleichungen ermitteln, wie groß und schwer die Linsengalaxie ist, aber auch, wie schnell sie rotiert. „Die Daten des schwachen Gravitationslinsen-Effekts erweitern die zirkulären Geschwindigkeitskurven um mehr als eine Größenordnung“, erklärt das Team. „Wir können die Rotationsgeschwindigkeit dadurch bis zu 3,2 Millionen Lichtjahre hinaus messen.“
Kein Absinken im Außenbereich
Die Messungen ergaben Überraschendes: „Die Rotationskurven der Galaxien bleiben bis in diese Entfernung hinaus flach, ohne klare Anzeichen eines Absinkens“, berichten Mistele und seine Kollegen. „Dieses bemerkenswerte Verhalten ist in allen Massenbereichen sowohl in jungen wie in alten Galaxien zu beobachten.“ Ähnliches zeigte sich in einem zweiten Katalog von knapp 14.000 Gravitationslinsen-Galaxien. Auch bei ihnen nahm die Rotationsgeschwindigkeit nach außen hin weniger stark ab als es gängige Modelle vorsehen.
Gleichzeitig folgten die gemessenen Werte aber weiterhin der Tully-Fischer-Beziehung. Nach Angaben der Forschenden legt dies nahe, dass die erstaunliche „Flachheit“ der Rotationskurven nicht auf Verzerrungen durch die Messmethode zurückgehen. „Wir wussten, dass diese Beziehung gilt. Aber es war nicht klar, ob sie auch am Außenrand der Galaxien gilt und wie weit sie hinausreicht“, sagt Mistele.
„Herausforderung für gängige Modelle“
Doch wie ist die unerwartete Flachheit der galaktischen Rotationskurven zu erklären? Normalerweise sollte das Tempo im Außenbereich von Galaxien deshalb abnehmen, weil dort weniger Masse präsent ist. Auch der Schwerkrafteinfluss der Dunklen Materie und Sterne aus dem inneren Bereich der Galaxien nimmt nach außen hin ab. „Unsere Ergebnisse sind daher eine Herausforderung für gängige Modelle“, erklärt Mistele. Denn diese, darunter das Navarro-Frenk-White-Profil (NFW), beschreiben relativ genau, wie die Dichte Dunkler Materie in einer Galaxie nach außen hin abnimmt.
„Die Implikationen der neuen Beobachtungen sind weitreichend“, sagt Misteles Kollegin Stacy McGaugh. Denn um die zu flache Rotationskurve zu erklären, müssten entweder die Halos aus Dunkler Materie sehr viel weiter hinausreichen als gedacht und damit dem Navarro-Frenk-White-Profil widersprechen. Oder aber die Schwerkraftwirkung der galaktischen Massen verhält sich anders als es die Modelle vorsehen.
„Die Resultate könnten nicht nur unsere Vorstellungen der Dunklen Materie neu definieren, sondern sogar die Basis der modernen Astrophysik herausfordern“, sagt McGaugh. Denn das erwartete Rotationsverhalten der Galaxien leitet sich aus dem kosmologischen Modell der Kalten Dunklen Materie (ΛCDM) ab. Nach diesem sollte die Dichte der Dunklen Materie am Außenrand der Galaxienhalos in einem bestimmten Verhältnis zum Radius abnehmen. Doch den neuen Messungen zufolge ist dies nicht der Fall.
Diskrepanzen auch bei der Milchstraße
Interessant auch: Erst kürzlich haben Astronomen erstmals auch das Rotationsprofil der Milchstraße bis in ihre Außenbereiche bestimmt – und auch dabei stießen sie auf Diskrepanzen. Ähnlich wie es Mistele und Team für ihre Galaxien festgestellt haben, ist das Rotationstempo auch unserer Heimatgalaxie bis weit nach außen unerwartet hoch. Dann jedoch, ab einem Abstand von rund 65.000 Lichtjahren vom Milchstraßenzentrum, kreisen die Sterne plötzlich langsamer als von den Modellen vorhergesagt.
In beiden Fällen können die Astronomen bisher nicht erklären, warum die Messergebnisse von den Modellen abweichen. „Dies unterstreicht die Notwendigkeit weiterer Forschungen zu dieser Frage“, sagt Mistele. (The Astrophysical Journal Letters, accepted; doi: 10.3847/2041-8213/ad54b0)
Quelle: Case Western Reserve University