Knapp außerhalb der Resonanz
Ob die Resonanz-Theorie stimmt, hängt allerdings entscheidend von einem Parameter ab: dem Drehimpuls des Saturn. Er beeinflusst, wie leicht ein Planet durch äußere Einflüsse aus seiner Ausrichtung zu bringen ist. „Wenn der Drehimpuls sehr groß ist, dann befindet sich das System in Resonanz und der Neptun könnte erklären, warum der Saturn sich seitlich dreht“, erklärt Koautor Burkhard Militzer von der University of California in Berkeley. „Wenn aber der Drehimpuls kleiner ist, dann fällt das ganze Szenario auseinander und man muss nach einer anderen Theorie suchen.“
Deshalb haben Wisdom, Militzer und ihr Team nun den Drehimpuls des Saturns anhand von Messdaten der NASA-Raumsonde Cassini und einem Modell noch einmal bestimmt. Das überraschende Ergebnis: Die beiden Planeten sind nicht in Resonanz. „In allen Modellannahmen und für alle Rotationsperioden liegt das System zwar in der Nähe der Resonanzregion, aber knapp außerhalb“, berichten Wisdom und seine Kollegen. Ihren Daten zufolge beträgt die Abweichung rund ein Prozent.
Daraus schließen die Planetenforscher, dass Saturn und Neptun tatsächlich lange Zeit in einer Resonanz waren. Diese muss aber innerhalb der letzten rund 200 Millionen Jahre gebrochen worden sein.
Ist ein verlorener Mond schuld?
Aber wodurch? Um das herauszufinden, rekonstruierten die Forschenden die vergangene Entwicklung des Ringplaneten und seiner Nachbarn im Modell. Dabei prüften sie zunächst, ob vielleicht Bahnveränderungen der Saturnmonde zum Resonanzbruch geführt haben könnten. Es zeigte sich: Zwar hat sich der Saturnmond Titan tatsächlich im Laufe der Zeit nach außen bewegt, aber das allein reichte nicht aus, um die Resonanz von Saturn und Neptun zu brechen.
Bleibt noch eine zweite Erklärung: „Das System könnte der Resonanz entfliehen, wenn der Saturn einst einen zusätzlichen Mond besaß, der dann verloren ging“, erklärt Militzer. Dieser verlorene Trabant könnte entweder durch Schwerkraftturbulenzen aus dem System geschleudert worden sein oder er kam dem Saturn zu nahe und wurde von dessen Gezeitenkräften zerrissen. Beides könnte theoretisch die Synchronisation zwischen Neptunbahn und Saturnachse brechen.
Aus der Bahn gedrängt
Das Szenario rekonstruieren Wisdom und sein Team auf Basis ihrer Modelle so: Der von ihnen „Chrysalis“ getaufte Mond war ungefähr so groß und schwer wie Iapetus, der drittgrößte Mond des Saturn. Dieser hat einen Durchmesser von rund 1.470 Kilometern. Die Umlaufbahn von Chrysalis müsste zwischen Titan und Iapetus gelegen haben und war lang Zeit stabil. Dann jedoch begann der Titan, immer weiter nach außen zu driften.
Vor rund 100 bis 200 Millionen Jahren führte dies dazu, dass der Orbit von Chrysalis instabil wurde – der Mond geriet aus der Bahn. In den Simulationen führte dies in einem Teil der Durchgänge zum Ausschleudern des Monds aus dem System. In anderen Durchgängen kam der hypothetische Mond dem Saturn dadurch zu nahe und wurde von dessen Gezeitenkräften zerrissen. „In beiden Fällen wäre der Saturn dadurch aus der Resonanz gefallen“, berichten die Forscher.
Erklärung für die jungen Ringe
Und nicht nur das: Weil ein Teil der Mondtrümmer im Orbit um den Saturn blieb, entstanden dadurch auch die Ringe. „Das Coole daran ist, dass unser Szenario damit das zuvor unerklärte geringe Alter der Saturnringe gleich mit erklärt“, sagt Wisdom. Die eisreichen Ringe wären demnach Relikte eines früheren großen Eismonds des Saturn. Damit würden die Existenz des hypothetischen Monds Chrysalis und seine Zerstörung gleich mehrere Eigenheiten des Saturnsystems erklären.
Dieses Szenario hält auch die nicht an der Studie beteiligte Planetenforscherin Maryame El Moutamid von der Cornell University für durchaus denkbar: „Wisdom und Team liefern einen plausiblen Erklärungsmechanismus für die Nähe des Saturn zu einer Präzessions-Resonanz mit Neptun und für seine jungen Ringe“, schreibt sie in einem begleitenden Kommentar. Allerdings räumen auch Wisdom und seine Kollegen ein, dass das Szenario nun noch weiter überprüft werden muss. (Science, 2022; doi: 10.1126/science.abn1234)
Quelle: Science, Massachusetts Institute of Technology, University of California Berkeley
16. September 2022
- Nadja Podbregar