Rätselhafte Diskrepanz: Das Universum dehnt sich schneller aus als es dürfte – das bestätigen nun auch Daten des James-Webb-Teleskops. Mit ihm haben Astronomen erstmals mehr als 320 veränderliche Sterne im Infrarotbereich vermessen und daraus die Expansionsrate des Kosmos ermittelt. Auch dieser neue Wert für die Hubble-Konstante weicht deutlich von dem theoretisch erwarteten ab, wie die Forschenden berichten. Das legt nahe, dass es im Kosmos noch unentdeckte Kräfte oder Prozesse gibt, die die Ausdehnung beschleunigen.
Seit dem Urknall dehnt sich unser Universum immer weiter aus und diese Expansion nimmt mit einer stetigen Rate zu, wie Astronomen Ende der 1990er Jahre nachwiesen. Als Triebkraft dafür gilt die Dunkle Energie, die der anziehenden Wirkung der Gravitation entgegenwirken soll. Wie schnell sich das Universum zurzeit ausdehnt, wird in Form der Hubble-Konstante angegeben – einem Parameter in Einsteins Feldgleichungen, der die Expansionsrate beschreibt.
„Wir können die Expansionsrate des Universums vorhersagen, indem wir sein ‚Babyfoto‘, die kosmische Hintergrundstrahlung, messen und dann theoretische Modelle der kosmischen Entwicklung nutzen, um die heutige Ausdehnungsgeschwindigkeit zu ermitteln“, erklärt Erstautor Adam Riess vom Space Telescope Science Institute in Baltimore. Daraus ergibt sich eine Hubble-Konstante von 67 Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec.
Unerklärbare Abweichungen
Das Problem jedoch: Die tatsächlich gemessenen Werte für die heutige Expansionsrate sind deutlich höher: Auf Basis der Entfernungsmessung bei Supernovae, Roten Riesen, Gravitationslinsen und veränderlichen Sternen – sogenannten Cepheiden – kommen Astronomen auf eine Hubble-Konstante von 73 Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec. Der Kosmos dehnt sich demnach heute deutlich schneller aus als er dürfte. Aber warum?
„Die aufregendste Möglichkeit wäre, dass diese Diskrepanz der Hubble-Konstante auf etwas hindeutet, dass wir in unserem Verständnis des Kosmos übersehen haben“, sagt Riess. Hinter der schnelleren Ausdehnung des Kosmos könnte demnach ein Prozess oder eine Kraft stehen, die bisher nicht im kosmologischen Standardmodell berücksichtigt wird. „Das könnte eine exotische Form der Dunklen Energie oder Dunklen Materie sein, ein Fehler in unserem Verständnis der Gravitation oder die Existenz eines neuartigen Teilchens oder Felds“, so Riess.
Allerdings ist bisher auch nicht komplett ausgeschlossen, dass eine Kombination von Messfehlern und Ungenauigkeiten dahintersteckt – dies wird jedoch mit jeder neuen Messung und Messmethode unwahrscheinlicher, wie Riess und sein Team erklären.
Webb-Teleskop misst genauer nach
Jetzt liefert auch das James-Webb-Teleskop erstmals Daten zur kosmischen Ausdehnung – und bestätigt die Abweichung. Für die Messungen haben Riess und sein Team mehr als 320 Cepheiden in mehreren Galaxien mit der Nahinfrarotkamera NIRCam des Teleskops anvisiert. Anhand der Helligkeit und des Pulsierens dieser Sterne lässt sich ihre Entfernung relativ genau ermitteln. Allerdings muss man dafür sicherstellen, dass das Cepheiden-Licht nicht durch Staub oder Störstrahlung nahegelegener Sterne verfälscht wird.
„Mit seinem großen Spiegel und den sensitiven Optiken kann das Webb-Teleskop das Cepheiden-Licht gut vom Licht benachbarter Sterne unterscheiden“, erklärt Riess. Im Nahinfrarot stört zudem auch kein Staub die Beobachtungen. „Webbs Daten haben das Störrauschen in den Cepheiden-Messungen dramatisch verringert“, so der Astronom. Weil viele dieser Cepheiden zuvor schon vom Hubble-Weltraumteleskop vermessen wurden, ermöglichen die neuen Beobachtungen einen überprüfenden Vergleich.
Diskrepanz bestätigt
Das Ergebnis: Die mit dem James-Webb-Teleskop ermittelten Werte für Helligkeit und Entfernung der Cepheiden stimmen mit denen der früheren Messungen überein, wie die Astronomen berichten. Auch die neuen Daten ergeben demnach eine Hubble-Konstante, die deutlich über der aus theoretischen Modellen abgeleiteten liegt. Nach Ansicht von Riess und seinem Team spricht dies dagegen, dass systematische Messfehler oder Ungenauigkeiten durch Störlicht benachbarter Sterne dafür eine entscheidende Rolle spielen.
Stattdessen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Expansionsrate des Kosmos heute tatsächlich höher ist als sie sein dürfte. „Was unsere Ergebnisse allerdings noch nicht verraten, ist, warum sich das Universum so schnell ausdehnt“, sagt Riess. „Das Rätsel der Hubble-Diskrepanz vertieft sich.“ (The Astrophysical Journal, accepted; arXiv, doi: 10.48550/arXiv.2307.15806)
Quelle: Space Telescope Science Institute