Überraschende Entdeckung: Die Milchstraße ist womöglich doch nicht Teil des Laniakea-Superclusters – der Megastruktur, die bisher als unsere „kosmische Heimat“ galt. Das enthüllt eine neue Kartierung der gravitativen Einzugsgebiete im lokalen Kosmos. Demnach könnte unsere Galaxiengruppe statt zu Laniakea zum weit größeren Shapley-Supercluster gehören. Dieser Attraktor hat die zweitgrößte Schwerkraftsenke im lokalen Universum – und zieht auch unsere Galaxie allmählich zu sich, wie die Astronomen in „Nature Astronomy“ berichten.
Die Galaxien und Galaxienhaufen im Kosmos bewegen sich nicht zufällig: Sie folgen unsichtbaren Strömungen, die von großräumigen Unterschieden der Materiedichte gelenkt werden. Massereiche, dichte Großstrukturen wie Laniakea, der Shapley-Supercluster oder der 1,3 Milliarden Lichtjahre lange Sloan Great Wall fungieren dabei als Attraktoren – als Schwerkraftsenken, die Galaxien in großem Umkreis zu sich lenken. Die galaxienarmen Voids oder der 2017 entdeckte „Dipol-Repeller“ lassen die Galaxien hingegen von sich wegströmen.
Astronomen vergleichen dies mit dem Einzugsgebiet von Flusssystemen und ihren Wasserscheiden: So wie die Landschaft den Fluss des Wassers lenkt, bestimmt die Raumkrümmung durch gravitative Attraktoren die kosmischen Strömungen.
Attraktoren gesucht
Doch welche dieser Megastrukturen prägen unser lokales Universum? Das haben Astronomen um Aurelien Valade von der Universität Marseille und dem Leibniz Institut für Astrophysik in Potsdam nun erneut untersucht. Dafür nutzten sie Daten des Cosmicflows-4 Survey, der Lage und Bewegung von rund 56.000 Galaxien im Umkreis von rund einer Milliarde Lichtjahren enthält. Zum Vergleich: Die Studie, die den Laniakea-Supercluster identifiziert hat, beruhte auf nur 8.000 Galaxien.
Mithilfe spezieller, auf kosmologischen Parametern basierenden Algorithmen ermittelten die Astronomen zunächst die Eigenbewegungen der einzelnen Galaxien. Dann suchten sie nach Mustern, die Lage und Einzugsbereiche der großen „Basins of Attractions (BoA) verraten. „Unser Ansatz liefert uns zwei Informationen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Attraktor existiert und die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmter Punkt im All zu ihm gehört“, erklärt das Team.
17 kosmische Giganten
Das Ergebnis ist ein dreidimensionales Modell, das die Strömungen und gravitativen Megastrukturen im lokalen Universum in zuvor unerreichter Genauigkeit zeigt. Vor allem die Grenzen zwischen den einzelnen Einzugsgebieten dieser Attraktoren seien nun deutlich präziser kartiert als zuvor, berichten Valade und seine Kollegen. Insgesamt identifizierten sie 17 große Schwerkraftsenken in unserer kosmischen Umgebung.
Schon auf den ersten Blick sticht dabei ein Attraktor besonders heraus: „Der Sloan Great Wall and die mit ihm verknüpften Strukturen sind überwältigend dominant“, berichten Valade und sein Team. Das Einzugsgebiet dieses Superclusters umfasst rund eine halbe Milliarde Kubik-Lichtjahre. Damit ist die Attraktionssenke des Sloan Great Wall mehr als doppelt so groß wie die des zweitgrößten Attraktors, des Shapley-Superclusters.
Doch die wahre Ausdehnung dieser Giganten unter den gravitativen Einzugsgebieten könnte noch größer sein: „Die dominanten Basins of Attraction – Shapley, Hercules und der Sloan Great Wall – sind alle durch den Außenrand unseres Datenfelds begrenzt“, erklären die Astronomen. Sie gehen deshalb davon aus, dass die Gravitationsbecken noch weiter hinausreichen.
Milchstraße: Shapley satt Laniakea?
Doch wo unter diesen „Big Playern“ liegt die Milchstraße? Bisher galt unsere Heimatgalaxie als Teil des Laniakea-Superclusters. Doch die neuen Analysen wecken daran Zweifel: „Die mit der Milchstraße verbundenen Strömungen bewegen sich auf zwei verschiedene Senken zu – und der bevorzugte Endpunkt ist das Gebiet des Shapley-Superclusters mit 58 Prozent“, schreiben Valade und seine Kollegen. Nur rund 40 Prozent der Strömungen enden dagegen im Gebiet des Laniakea-Superclusters.
Das könnte bedeuten, dass unsere Milchstraße gar nicht zu Laniakea gehört. Stattdessen könnten unsere Lokale Gruppe und vielleicht sogar noch größere Teile des Laniakea-Superclusters der übergeordneten Megastruktur des Shapley-Attraktors angehören. Demnach wäre dann er unsere eigentliche kosmische Heimat. „Es ist spannend, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit Teil einer viel größeren Struktur sind“, sagt Seniorautor Noam Libeskind vom Leibniz-Institut für Astrophysik.
Damit bieten diese Erkenntnisse einen ganz neuen Einblick in die gravitative Landschaft unseres lokalen Universums. Sie zeigt, wie Galaxien und kosmische Strukturen im Laufe der Zeit miteinander interagieren und welche Einflussfaktoren auf sie wirken. Das könnte Astronomen auch dabei helfen, die komplexe Dynamik des Universums und seiner Materieverteilung besser zu verstehen. (Nature Astronomy, 2024; doi: 10.1038/s41550-024-02370-0)
Quelle: Nature Astronomy, The Hebrew University of Jerusalem, Leibniz-Institut für Astrophysik Potsdam