Verborgener Riese: Astronomen haben in unserer Galaxie ein gewaltiges Band aus Sternenwiegen und Gaswolken entdeckt – die größte Struktur dieser Art in der Milchstraße. Die gigantische Welle ist 9.000 Lichtjahre lang und windet sich durch die galaktische Hauptebene hindurch, wie die Forscher im Fachmagazin „Nature“ berichten. Die Entdeckung dieser „Radcliffe-Welle“ widerlegt eine seit 150 Jahren etablierte Vorstellung von der lokalen Struktur unserer Galaxie – und wirft Fragen auf.
Vor mehr als 150 Jahren beobachteten die Astronomen Benjamin Gould und John Herschel, dass sich helle, junge Sterne, interstellare Gaswolken und Sternenwiegen am Nachthimmel entlang eines Bogens zu konzentrieren schienen. Sie schlossen daraus, dass die Sonne und ihre galaktische Umgebung von einem um 20 Grad gegenüber der galaktischen Ebene geneigten Ring aus Sternen, Gas und Staub umgeben ist – dem sogenannten Gouldschen Gürtel.
Doch ob es diesen Ring tatsächlich gibt und welche Größe diese Ansammlung von Sternenwiegen hat, blieb unklar. Denn den Astronomen fehlten lange die technischen Möglichkeiten, um Entfernung, Form und Ausdehnung so großräumiger Strukturen der Milchstraße genauer zu bestimmen. Dank der Daten des europäischen Gaia-Weltraumteleskops jedoch hat sich dies inzwischen geändert – und das haben Joao Alves von der Universität Wien und sein Team genutzt, um den Gouldschen Gürtel näher zu untersuchen.
Gigantische Welle aus Sternenwiegen und Gas
Das überraschende Ergebnis: Die Ansammlung von Sternenwiegen ist kein Ring, sondern Teil eines riesigen, gewellten Bandes. Diese „Radcliffe-Welle“ getaufte Struktur ist ungefähr 9.000 Lichtjahre lang und 400 Lichtjahre breit – und damit die größte Struktur dieser Art in der Milchstraße, wie die Forscher berichten. Die gigantische „Welle“ macht rund 20 Prozent der Breite des lokalen Orionarms der Milchstraße aus und erstreckt sich über 40 Prozent seiner Länge. Gleichzeitig ragt sie 500 Lichtjahre weit nach oben und unten aus der Hauptebene der Galaxie heraus.
„Wir waren geradezu schockiert, als uns klar wurde, wie lang und gerade die Radcliffe-Welle ist, wenn man sie dreidimensional und von oben betrachtet“, sagt Koautorin Alyssa Goodman von der Harvard University. „Kein Astronom hat erwartet, dass wir neben einer so gigantischen, wellenartigen Ansammlung von Gas leben.“ Denn dieses Band liegt an seinem nächsten Punkt nur rund 500 Lichtjahre von der Sonne entfernt.
Projektionseffekt statt Gürtel
Die Entdeckung der Radcliffe-Welle demonstriert, wie verzerrt gerade großräumige astronomische Strukturen von der Erde aus erscheinen können: „Diese Struktur war die ganze Zeit direkt vor unseren Augen, aber wir konnten sie nicht richtig erkennen“, sagt Alves. Ihre enorme Größe und ihre Form belegen nun, dass die 150 Jahre alte Vorstellung eines Gürtels aus Sternenwiegen falsch ist. Das, was Gould und Herschel als Bogen sahen, ist in Wirklichkeit nur ein kleiner Ausschnitt aus der gigantischen Radcliffe-Welle.
„Unsere neuen Erkenntnisse bedeuten das Ende für den Gouldschen Gürtel“, betont Koautor Stefan Meingast von der Universität Wien. „Dass diese Struktur nur ein Projektionseffekt war, ist eine kleine Sensation.“ Ähnlich sieht es auch Goodman: „Die Existenz dieser Welle zwingt uns dazu, unsere Vorstellungen der dreidimensionalen Struktur der Milchstraße zu überdenken.“
Ursprung der Riesenwelle ungeklärt
Doch wie ist diese gewaltige Struktur entstanden? Bisher wissen dies auch die Astronomen nicht. „Die Struktur ist zu groß und gerade, um durch die Effekte einer früheren Generation massereicher Sterne entstanden zu sein“, berichten Alves und sein Team. Wahrscheinlicher sei es daher, dass dieses schmale Band das Resultat eines großräumigen galaktischen Prozesses sei – entweder einer Schockfront in einem Spiralarm oder der gravitationsbedingten Veränderungen in der Hauptebene der Milchstraße.
Ebenfalls rätselhaft ist bislang, warum und wie diese Riesenwelle schwingt. Denn die Messungen deuten darauf hin, dass sich das Band aus Sternenwiegen und Gaswolken im Laufe der Zeit verändert: Es oszilliert offenbar um die Hauptebene der Milchstraße und interagiert dabei immer wieder auch mit unserer Sonne. „Vor 13 Millionen Jahren kreuzte diese den Orionarm und in weiteren 13 Millionen Jahren wird sie diese Struktur erneut passieren“, erklärt Alves. „Es ist ein wenig, als wenn wir diese Welle reiten würden.“
Die Astronomen hoffen nun, dass weitere Untersuchungen, insbesondere zur Dynamik dieser Struktur, mehr Aufschluss über die Entstehung und die Entwicklung der Radcliffe-Welle geben werden. (Nature, 2020; doi: 10.1038/s41586-019- 1874-z)
Quelle: Harvard University, Universität Wien