Physik

Neue Art der kosmischen Elementbildung?

Neutrino-Dusche könnte die Entstehung seltener, neutronenarmer Atomsorten im Kosmos erklären

Kosmische Explosion
Viele schwere Elemente sind bei Supernovae und anderen kosmischen Explosionen entstanden. Doch es gibt einige neutronenarme Isotope, die durch die gängigen Prozessen nicht erklärbar sind. © Pobytov/ iStock

Geisterteilchen als Atom-Konstrukteure: Physiker haben einen zuvor unbekannten Weg der kosmischen Elementbildung entdeckt. Er könnte erklären, wie einige ungewöhnlich neutronenarme Atomsorten entstanden sind. Eine Schlüsselrolle für diesen vr-Prozess könnten energiereiche Neutrinos spielen. Bei bestimmten kosmischen Explosionen sorgen sie dafür, dass Neutronen in diesen Atomkernen zu Protonen werden. Doch wo könnte diese neuartige Form der Nukleosynthese stattfinden?

Die meisten Elemente des Periodensystems entstehen entweder durch die Kernfusion im Inneren von Sternen oder durch langsame oder schnelle Neutroneneinfang-Reaktionen bei Supernovae, Neutronensternkollisionen und anderen energiereichen Ereignissen im Kosmos. Bei diesen s- beziehungsweise r-Prozess genannten Nukleosynthese-Reaktionen wachsen Atomkerne durch Kollisionen mit Neutronen und anschließende Umwandlung einiger dieser Neutronen in Protonen heran.

p-Kerne
Stabile Isotope von Antimon bis Lanthan und ihr Syntheseweg: s-Prozess = grün, r-Prozess = rot, neutronenarme p-Kerne sind gelb eingefärbt. © Pamputt/CC-by-sa 4.0

Das Rätsel der p-Kerne

Doch es gibt Atomkerne, die durch keinen dieser bekannten Prozesse entstanden sein können. Dabei handelt es sich um rund 35 Isotope schwerer Elemente, die im Verhältnis zu ihrer Protonenzahl ungewöhnlich wenige Neutronen im Kern besitzen. Zu diesen protonenreichen p-Kernen gehören unter anderem Molybdän-92, Ruthenium-96 und -98 und Cadmium-106. Zwar haben Physiker mehrere hypothetische Synthesewege postuliert, sie können die p-Kerne aber nur zum Teil erklären.

Ähnliches gilt für einige seltene Radionuklide: „Zusätzlich zu den p-Kernen ist Niob-92 (92Nb) ein weiteres Element unbekannten Ursprungs“, berichten Zewei Xiong vom GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt. Dieses langlebige, aber radioaktive Niob-Isotop existierte im frühen Sonnensystem, ist aber seither zerfallen und kommt daher nicht mehr vor. Aber auch die Bildung dieser Atomkerne ließ sich bisher nicht erklären.

Neutrinos als Katalysatoren?

Eine mögliche Lösung haben nun Xiong und sein Team gefunden. Für ihre Studie hatten sie untersucht, wie Neutrinos zur Bildung schwerer Atomkerne beitragen. „Frühere Studien zum r-Prozess bei Kernkollaps-Supernovae und Neutronensternkollisionen haben gezeigt, dass Neutrinos dabei eine fundamentale Rolle spielen können“, erklären sie. „Denn bei hohen Temperaturen bestimmen die Absorption von (Anti)Elektronneutrinos und dadurch ausgelöste Reaktionen den Neutronenreichtum des ausgeschleuderten Materials.“

Normalerweise gilt dabei eine hohe Neutrinodichte eher als hinderlich für den r-Prozess: „Sie wandeln Neutronen in Protonen um und verringern damit die Menge der für den Neutroneneinfang verfügbaren Teilchen“, so die Physiker. Doch wie sie mithilfe theoretischer Modellierungen jetzt herausgefunden haben, könnte genau dies zur Bildung von neutronenarmen p-Kernen führen. „Unsere Entdeckung eröffnet eine neue Möglichkeit, die Entstehung von p-Kernen durch Neutrino-Absorptionsreaktionen zu erklären“, sagt Xiong.

Neutronen werden zu Protonen

Konkret läuft diese neue, vr-Prozess getaufte Variante der Nukleosynthese so ab: Bei kosmischen Ereignissen mit hohen Temperaturen und intensiver Neutrino-Freisetzung entstehen zunächst Atomkerne durch den normalen r-Prozess – sie wachsen durch das Einfangen freier Neutronen immer weiter heran. Wenn die Temperatur unter eine bestimmte Schwelle sinkt, stoppt der Neutroneneinfang. Normalerweise würden nun die gebildeten Atomkerne durch Beta-Zerfälle solange weiterzerfallen, bis sie ein stabiles Isotop erreichen.

Doch bei Ereignissen mit einer hohen Neutrino-Dichte sieht dies anders aus, wie Xiong und sein Team erklären. Denn dann absorbieren die Atomkerne Neutrinos und deren Energie reicht aus, um die schnelle Umwandlung von im Kern gebundenen Neutronen in Protonen anzuregen. „Dadurch gelangen die Kerne über die Schwelle der stabilen Betazerfallsprodukte hinaus und werden zu neutronenarmen p-Kernen“, erklären Xiong und seine Kollegen. Der vr-Prozess könne so die Isotope erzeugen, für die man bisher keinen Syntheseweg kannte.

Wo findet der vr-Prozess statt?

Eine Frage ist allerdings noch offen: Bei welcher Art von kosmischen Ereignissen der νr-Prozess auftritt. Denn er benötigt zwar eine hohe Neutrinodichte, gleichzeitig darf die Temperatur nicht zu hoch sein. „Wir vermuten, dass der vr-Prozess in stark magnetischen Ausströmen stattfindet, in denen hohe Neutrinoflüsse auftreten“, schreiben die Physiker. Solche Bedingungen könnten in den Polregionen der Supernovae schnell rotierender und stark magnetischer Sterne herrschen oder bei bestimmen Kernkollaps-Ereignissen.

Auch die Kollision stark magnetischer Neutronensterne – sogenannter Magnetare – könnte ein geeignetes Umfeld für den vr-Prozess bieten. „Eine kürzlich veröffentlichte Studie hat zudem ergeben, dass geeignete Bedingungen auch in den Winden hochgradig magnetisierter Proto-Neutronensternen herrschen könnten“, berichten Xiong und seine Kollegen.

Ob der von Xiong und seinem Team postulierte vr-Prozess tatsächlich im Kosmos abläuft und wo, müssen nun weitere Untersuchungen zeigen. Der nächste Schritt wird es sein, die potenziellen Bildungsorte von p-Kernen durch den vr-Prozess näher einzugrenzen. Dann könnte es möglich werden, diesen neuen Weg der Nukleosynthese auch nachzuweisen. (Physical Review Letters, 2024; doi: 10.1103/PhysRevLett.132.192701)

Quelle: GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung

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