Hartnäckige Abweichungen: Seit Jahrzehnten rätseln Astrophysiker, warum einige in Röntgenspektren gemessenen Spektrallinien anders aussehen als sie der Theorie nach sollten. Jetzt hat es ein Experiment erstmals geschafft, die theoretisch berechneten Spektralwerte auch praktisch zu erzeugen. Das löst nicht nur das Rätsel um die Diskrepanzen bei diesen Linien hochangeregten Eisens. Die neuen Erkenntnisse helfen auch der Röntgenastronomie bei der Erforschung kosmischer Plasmen.
Wenn Astronomen herausfinden wollen, wie heiß kosmische Gaswolken, die Korona der Sonne oder die rasend schnellen Akkretionsscheiben um Schwarze Löcher sind, schauen sie sich die Röntgenspektren dieser teilweise Millionen Grad heißen Plasmaansammlungen an. Deren Röntgenstrahlung wird von energiereichen, stark angeregten Atomen freigesetzt und enthält daher charakteristische Emissionslinien der enthaltenen Elemente.
Das spektrale Linienmuster verrät aber auch, wie heiß ein solches Plasma ist. Denn an der Wellenlänge der Emissionslinien lässt sich erkennen, in welchem Ionisierungszustand sich die Atome befinden. Je heißer und energiereicher ein Plasma ist, desto mehr Elektronen verlieren seine Atome – und dies spiegelt sich im Röntgenspektrum wider. Durch Vergleich mit theoretisch berechneten Werten für die Ionisationsstufen und Anregungszustände können Astrophysiker so kosmische Plasmen einstufen.
Eisen-Linien passen nicht zur Theorie
Doch ausgerechnet einige astrophysikalisch besonders wichtige Spektrallinien tanzen aus der Reihe. Dabei handelt es sich um zwei Emissionslinien von Eisen XVII – Eisenatomen, denen im heißen Plasma 16 ihrer 26 Elektronen entrissen wurden. Das Intensitätsverhältnis dieser beiden Linien ist ein entscheidender Anzeiger für die Temperatur kosmischer Plasmen und die in ihnen ablaufenden Prozesse. Aber schon seit Jahrzehnten weichen die in Röntgenspektren beobachteten Fe-XVII-Linien um 20 Prozent von den theoretischen Berechnungen ab.
Noch irritierender jedoch: Selbst in Laborexperimenten gelang es nicht, die theoretischen Werte zu reproduzieren, zuletzt versuchten Physiker dies im Jahr 2020. „Wir waren überzeugt, alle damals bekannten systematischen Effekte bei der Messung im Griff zu haben“, berichtet Steffen Kühn vom Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK) in Heidelberg. Doch die Abweichungen blieben bestehen. Dies warf die Frage auf, ob vielleicht die kernphysikalischen Modelle falsch lagen?
Mit der Ionenfalle ins Röntgensynchrotron
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, haben Kühn und seine Kollegen nun ein weiteres Experiment durchgeführt. Anders als in bisherigen Versuchen maßen sie damit aber nicht das Intensitätsverhältnis der beiden Eisen-Spektrallinien, sondern die absolute Intensität der einzelnen Linien, die sogenannte Oszillatorstärke. Dafür nutzten sie eine am Institut neu entwickelte, mobile Ionenfalle. In dieser werden die Eisen-XVII-Ionen durch einen Elektronenstrahl produziert und in einem Magnetfeld gefangen.
Im nächsten Schritt bestrahlte das Team diese gefangenen Eisen-Ionen mit dem fokussierten und in seiner Energie fein justierbaren Röntgenstrahl des Synchrotrons PETRA III am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY) in Hamburg. Durch die Kombination der neuen Ionenfalle mit diesem Röntgenstrahl konnten die Forschenden die Auflösung des Röntgenspektrums gegenüber früheren Versuchen um das Zweieinhalbfache erhöhen. Das Signal-zu-Rausch-Verhältnis verbesserte sich um das Tausendfache.
Endlich eine Übereinstimmung
Dies brachte den Durchbruch: Erstmals ermittelten die Physiker in ihrem Experiment spektrale Intensitäten, die mit den theoretischen Werten für diese beiden Eisen-Linie übereinstimmten. „Dies klärt endlich das jahrzehntelange Rätsel um die Eisen-XVII-Linienstärken“, konstatieren Kühn und seine Kollegen. Damit stimmen nun Beobachtung und Theorie endlich überein – und die Richtigkeit der Modelle ist bestätigt.
Das Experiment hat auch verraten, warum die bisherigen Messungen so hartnäckig von den Modellen abwichen. Denn die hohe Auflösung der Röntgenspektren zeigte erstmals die beiden Eisenlinien bis in ihre Flügel hinein – die Wellenlängen, die am äußeren Rand der jeweiligen Linien liegen. „In den bisherigen Messungen waren die Flügel dieser Linien im Untergrund versteckt, was zu einer fehlerhaften Interpretation der Intensitäten geführt hat“, erklärt Kühn. Als Folge wurden die Oszillatorstärken der Linien unterschätzt.
Wichtig für die Astronomie
Dank der neuen experimentellen Daten können nun Röntgendaten von Weltraumteleskopen zukünftig mit höherer Genauigkeit ausgewertet werden – und in dem Vertrauen, dass die theoretischen Vergleichswerte auf korrekten Modellen beruhen. Das ist für schon im Weltraum aktiven Röntgenobservatorien wichtig, aber auch für künftige Röntgensatelliten wie die 2023 startende japanische XRISM-Mission oder das für Anfang der 2030er Jahre geplante Athena X-Ray Observatory der Europäischen Weltraumorganisation ESA.
„Diese Arbeit repräsentiert eine bemerkenswerte Leistung in der experimentellen Atomphysik“, kommentiert der nicht an der Studie beteiligte Physiker Roberto Mancini von der University of Nevada in Reno. „Sie wurde möglich durch technische Durchbrüche, eine exzellente Datenanalyse und die Identifizierung von Unsicherheitsfaktoren.“ (Physical Review Letters, 2022; doi: 10.1103/PhysRevLett.129.245001)
Quelle: Max-Planck-Institut für Kernphysik