Astronomie

Rätsel um den leichtesten Neutronenstern

Anomal leichtgewichtiger Sternenrest passt nicht ins gängige Schema

Neutronenstern
Neutronensterne sind die kompakten Reste massereicher Sterne, die nach deren Supernova übrigbleiben. © Pitris/ Getty images

Unerklärlich leicht: In einem Supernova-Überrest haben Astrophysiker den bisher leichtesten Neutronenstern entdeckt. Der schmächtige Sternenrest wiegt nur rund 0,77 Sonnenmassen und ist damit halb so schwer wie für Neutronensterne üblich. Das wirft die Frage auf, wie dieses Leichtgewicht entstehen konnte und was sich in seinem Inneren verbirgt. Denn die geringe Masse könnte auch auf exotische Materiezustände hindeuten, wie die Forschenden in „Nature Astronomy“ berichten.

Ein Neutronenstern entsteht, wenn ein massereicher Stern am Ende seines Lebenszyklus in einer Supernova explodiert. Übrig bleibt dann ein nur 20 bis 30 Kilometer großer Sternenkern, der aber die Masse von gut zwei Sonnen in sich vereinen kann. Die Dichte und der Druck im Inneren des Neutronensterns sind so hoch, dass selbst Atome zerfallen und nur Neutronen übrigbleiben. Im Kern bildet sich dadurch ein exotischer, superfluider Materiezustand.

„Besonders interessant ist die Beobachtung ungewöhnlich schwerer oder leichter Neutronensterne, weil sie die Bandbreite der zentralen Dichten ausweiten“, erklären Victor Doroshenko und seine Kollegen von der Universität Tübingen. Denn anhand solcher Extreme lassen sich die gängigen Modelle für das Innenleben solcher Sternenreste überprüfen.

HESS J1731-347
Falschfarbenbild des Supernovaüberrests HESS J1731-347 (links) und hochauflösende Röntgenspektren der Teleskope XMM-Newton und Suzaku. © Universität Tübingen

Strahlendes Relikt in staubiger Hülle

Umso spannender ist ein Neutronenstern, den Doroshenko und sein Team nun näher untersucht haben. Der kompakte Sternenrest liegt in der leuchtenden Staub- und Gashülle eines Supernova-Überrests und wurde vor einigen Jahren mithilfe des Gammastrahlen-Observatoriums H.E.S.S. in Namibia entdeckt. Nachfolgende Beobachtungen mit Röntgenteleskopen bestätigten, dass es sich bei dem Objekt HESS J1731-347 um einen sich abkühlenden Neutronenstern handelte.

Doch wie groß und schwer dieser Neutronenstern ist, blieb zunächst unklar. Erst im letzten Jahr haben Astronomen mithilfe des europäischen Gaia-Satelliten die genaue Position eines in der gleichen Supernova-Hülle liegenden Partnersterns von HESS J1731-347 bestimmt. Das ermöglichte es Doroshenko und seinen Kollegen nun, alle Beobachtungsdaten zu diesem Objekt auszuwerten und aus ihnen die Masse und Größe des Neutronensterns zu ermitteln.

„Dadurch konnten wir vorherige Ungenauigkeiten beheben und unsere Modelle verbessern. Masse und Radius des Neutronensterns ließen sich viel genauer bestimmen, als es bisher möglich war“, erklärt Koautor Valery Suleimanov.

Leichter als die Theorie erlaubt

Die Analysen ergaben Überraschendes: Der Neutronenstern HESS J1731-347 ist schon mit seinem Radius von nur 10,4 Kilometern ein eher schmächtiger Vertreter seiner Zunft. Noch ungewöhnlicher ist aber seine Masse von nur 0,77 Sonnenmassen. Der Sternenest wiegt demnach nur etwa halb so viel wie ein typischer Neutronenstern. „Unsere Massenschätzung macht das Objekt HESS J1731-347 zum leichtesten bisher bekannten Neutronenstern“, konstatieren die Astrophysiker.

Der Neutronenstern ist sogar so leicht, dass gängige Erklärungsmodelle an ihre Grenzen geraten. Denn wie schwer die Vorgängersterne sind und wie viel Masse sie beim Kernkollaps und der anschließenden Explosion verlieren, wird von astrophysikalischen Gesetzmäßigkeiten vorgegeben – eigentlich. Nach diesen gilt die Bildung von Neutronensternen mit weniger als 1,17 Sonnenmassen als „problematisch“. Das zuvor leichteste bekannte Exemplar lag mit 1,174 Sonnenmassen ziemlich genau an dieser Grenze.

Ist es ein Quarkstern?

Anders ist dies jedoch bei HESS J1731-347: Sollte sich seine geringe Mase bestätigen, liegt er mit nur 0,77 Sonnenmassen deutlich jenseits der theoretischen Grenze. „Ein so leichter Neutronenstern ist daher aus astrophysikalischer Perspektive ein sehr spannendes Objekt“, schreiben Doroshenko und seine Kollegen. „Ein bestätigter Verstoß gegen das theoretische Limit könnte erhebliche Folgen für unser Verständnis der Entstehung und Physik von Neutronensternen haben.“

Noch ist nicht einmal klar, ob der Sternerest überhaupt ein normaler Neutronenstern ist. Denn Astrophysiker schließen nicht aus, dass HESS J1731-347 ein Quarkstern sein könnte. Diese bisher nur hypothetischen Objekte sind noch dichter als Neutronensternen, weshalb selbst die Neutronen in ihrem Inneren zerfallen. Im Zentrum solcher Objekte müsste dann eine Quark-Gluon-Suppe ähnlich wie kurz nach dem Urknall vorliegen. „Das ist aktuell der vielversprechendste Quarkstern-Kandidat, den wir bisher kennen“, sagt Koautor Andrea Santangelo.

Es bleibt spannend

Doch selbst in dem Fall, dass es sich bei dem Objekt im Zentrum von HESS J1731-347 doch um einen „normalen“ Neutronenstern handele, bleibe es ein besonders interessantes Objekt. „Es erlaubt uns, den noch unerforschten Teil des Parameterraums in der Masse-Radius-Ebene von Neutronensternen zu untersuchen“, sagt Santangelo. „So erhalten wir wertvolle Hinweise auf die Zustandsgleichung der dichten Materie, mit der sich ihre Eigenschaften beschreiben lassen.“ (Nature Astronomy, 2022; doi: 10.1038/s41550-022-01800-1)

Quelle: Nature Astronomy, Eberhard Karls Universität Tübingen

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