Nie zuvor gesehenes Phänomen: Astronomen haben im Coma-Galaxienhaufen einen intergalaktischen Sternenstrom entdeckt, der Rätsel aufgibt. Denn dieses Band aus Sternen ist weit länger als alle bisher bekannten Sternenströme – es ist zehnmal so lang wie die gesamte Milchstraße. Mysteriös auch: Der „Giant Coma Stream“ ist relativ schmal und liegt fernab aller Galaxien im freien Raum. Wie er entstanden ist und warum er nicht längst zerstreut wurde, ist bisher rätselhaft.
Sternenströme sind im Kosmos nichts Ungewöhnliches: In der Milchstraße zeugen gleich mehrere solcher Bänder aus in eine Richtung driftenden Sternen und Gas davon, dass unsere Heimatgalaxie einst kleinere Nachbarn in sich aufgenommen hat. Auch Interaktionen zwischen Galaxien können lange Sternenströme verursachen, einer davon verbindet beispielsweise unsere Milchstraße mit den Magellanschen Wolken.
Ein dünnes Band aus Sternen
Doch jetzt haben Astronomen einen Sternenstrom entdeckt, der bisher beispiellos ist. Eigentlich wollte das Team um Javier Román von der Universität Groningen die Materieverteilung und Struktur des Coma-Clusters untersuchen, einem rund 300 Millionen Lichtjahre entfernten Galaxienhaufen aus mehr als 1.000 Einzelgalaxien. „Der Coma-Cluster ist ein idealer Ort um galaktischen Kannibalismus, Akkretion und andere Interaktionen in solchen Galaxienhaufen zu untersuchen“, erklären die Astronomen.
Als die Astronomen den Außenbereich des Coma-Clusters näher untersuchten, entdeckten sie etwas Ungewöhnliches: In den Aufnahmen zeigte sich ein langer, dünner Streifen aus sich gemeinsam bewegenden Sternen – ein Sternenstrom. Dieses stellare Band schwebt seltsamerweise frei im Raum und scheint mit keiner der Galaxien des Haufens verknüpft. „Dieser Sternenstrom überlappt mit keiner der in dieser Region sichtbaren Strukturen und es gibt auch keine Galaxie, die der Ursprung dieses Stroms sein könnte“, berichten Román und sein Team.
Größter je dokumentierter Sternenstrom
Noch außergewöhnlicher jedoch: Der „Giant Coma Stream“ getaufte Sternenstrom ist rund 1,6 Millionen Lichtjahre lang und damit rund zehnmal so lang wie die Milchstraße. „Seine dünne und kohärente Struktur erinnert zwar an die kalten Sternenströme der Milchstraße“, so Román und sein Team- „Aber die Größe dieses Sternenbands übertrifft alle dokumentierten ‚Giant Streams‘. Unseres Wissens wurde noch nie zuvor ein Sternenstrom dieser Größe detektiert.“
Wie ein so langes, aber dünnes Sternenband im turbulenten Umfeld des Coma-Galaxienhaufens erhalten bleiben konnte, ist den Astronomen bisher ein Rätsel. Denn solche Sternenströme entstehen typischerweise, wenn eine Zwerggalaxie in einen solchen Cluster hineingezogen und zerrissen wird. Normalerweise bleiben gerade solche dünnen, langen Bänder aber nicht lange intakt, weil sie schon bald nach ihrer Entstehung durch Schwerkrafteinflüsse verwirbelt und auseinandergerissen werden.
Entstehung rätselhaft
Doch beim Giant Coma Stream ist dies offenbar nicht der Fall: Er ist trotz seiner Länge relativ klar abgegrenzt und intakt. Um herauszufinden, wie dies möglich war, versuchten die Astronomen, die Entstehung des Sternenstroms in der Simulation Illustris-TNG50 nachzuvollziehen. Diese erlaubt es, die Entwicklung von Galaxien und kosmischen Großstrukturen virtuell und in hoher Auflösung zu rekonstruieren. Dafür ließen sie verschiedene große Vorläufer-Galaxien in einen virtuellen Coma-Cluster stürzen.
Es zeigte sich: In fast allen Durchgängen war der entstehende Sternenstrom entweder viel dicker als der Giant Coma Stream oder er überdauerte nicht lang genug. Nur unter ganz speziellen Bedingungen und Vorläufermassen gelang es den Astronomen, ein einziges Exemplar eines solchen Sternenstroms zu erzeugen. „Dieser Strom ist ähnlich schmal und lang wie der Giant Coma Stream“, berichten sie. Zudem zeigt er auch eine ähnliche Krümmung und Ausrichtung wie das Coma-Sternenband.
Einzelfall oder gängiges Phänomen?
„Unsere Simulation liefert uns eine erste Idee, wie solche sehr langen und schmalen Sternenströme entstehen könnten“, schreiben Román und sein Team. „Zudem demonstriert dies, dass sie im Rahmen der gängigen kosmologischen Szenarien prinzipiell möglich sind.“ Ob solche langgestreckten Sternenströme im kosmischen „Nirgendwo“ ohne Anbindung an eine Galaxie allerdings häufiger vorkommen oder ob der Giant Coma Stream eine seltene Ausnahme ist, bleibt vorerst offen.
Die Astronomen hoffen aber, dass sie mit zukünftigen Teleskopen, wie dem zurzeit im Bau befindlichen Extremely Large Telescope (ELT) und dem Rubin Observatory in Chile, mehr über die Struktur dieses rätselhaften Sternenstroms herausfinden und vielleicht auch weitere ähnliche Exemplare entdecken können. (Astronomy & Astrophysics, 2023; doi: 10.1051/0004-6361/202346780)
Quelle: Netherlands Research School for Astronomy (NOVA)