Raserstern im Galaxienzentrum: Astrononen haben den bislang schnellsten Stern der Milchstraße entdeckt. Der Stern S4711 rast mit bis zu 24.000 Kilometer pro Sekunde um das zentrale Schwarze Loch unserer Galaxie – das entspricht bis zu acht Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Für einen Umlauf benötigt er nur 7,6 Jahre. Die Forscher vermuten, dass es sich bei S4711 um einen „Squeezar“ handeln könnte, einen Stern, der extrem von Gezeitenkräften geprägt ist.
Im Zentrum unserer Milchstraße gibt es eine ganze Population von Sternen, die auf exzentrischen Bahnen um das supermassereiche Schwarze Loch Sagittarius A* kreisen. Dessen enorme Anziehungskraft beschleunigt diese Sterne stark. Den hellsten dieser Sterne, S2, haben die Astronomen schon genutzt, um Einsteins Vorhersagen zur Gravitations-Rotverschiebung und zur sogenannten Schwarzschild-Präzession – einer Verschiebung des Orbits – zu überprüfen.
Raserstern am Schwarzen Loch
Doch jetzt haben Florian Peißker von der Universität Köln und seine Kollegen einen Stern entdeckt, der noch schneller und näher um das Schwarze Loch kreist als S2. Aufgespürt haben sie ihn in den Beobachtungsdaten zweier Spektrografen am Very Large Telescope der Europäischen Südsternwarte ESO in Chile. Mit ihnen konnten sie die Bahn und die Geschwindigkeit mehrerer lichtschwacher Sterne rekonstruieren, die noch innerhalb von S2 kreisen.
Einer dieser Sterne, S4711 getauft, rast mit einer Geschwindigkeit von bis zu 24.000 Kilometer pro Sekunde – rund 86 Millionen Kilometer pro Stunde – um Sagittarius A*. Sein Höchsttempo entspricht damit rund acht Prozent der Lichtgeschwindigkeit, diese erreicht er aber nur in unmittelbarer Nähe zum Schwarzen Loch. „Die mittlere Orbitalgeschwindigkeit von S4711 liegt bei rund 0,5 Prozent der Lichtgeschwindigkeit“, berichten die Forscher. Der Stern benötigt für einen Umlauf um das Schwarze Loch nur 7,6 Jahre. Zum Vergleich: Der bislang schnellste Stern S2 braucht 15,6 Jahre.
Ist S4711 ein „Sqeezar“?
Die Astronomen vermuten zudem, dass S4711 zu einer bislang nur theoretisch postulierten Klasse von Sternen gehören könnte, den „Squeezaren“. Diese umkreisen ein supermassereiches Schwarzes Loch auf extrem exzentrischen Umlaufbahnen und werden deshalb bei Annäherung von dessen Gezeitenkräften stark aufgeheizt und kühlen sich in der Ferne wieder ab. „Squeezare können sehr hell sein und sich temporär um mehrere tausend Grad erhitzen“, sagt Peißker.
Bei S4711 ergaben die Spektralmessungen eine stellare Höchsttemperatur von gut 10.000 Kelvin – das ist fast doppelt so heiß wie die Oberfläche der Sonne. Zudem vermuten die Forscher, dass die starken Gezeitenkräfte auch starke Strahlenausbrüche bei diesen Sternen verursachen. Sollten weitere Beobachtungen S4711 als Squeezar bestätigen, wäre er der erste bekannte Stern dieser Klasse.
Eine verborgene Population
Die Entdeckung von S4711 und vier weiteren lichtschwachen Sternen im Galaxienzentrum deutet darauf hin, dass es in dieser extremen Zone direkt am Schwarzen Loch noch eine ganze Population bislang unerkannter lichtschwacher Sterne gibt. „Diese könnten Sagittarius A* in Entfernungen passieren, die nur der Größe unseres Sonnensystems entsprechen“, sagen Peißker und sein Team. Diese Sternenpopulation könnte den Astronomen damit ganz neue Möglichkeiten bieten, fundamentale Aspekte der Relativitätstheorie zu überprüfen.
Zusammen mit den schon bekannten 112 Sternen im sogenannten S-Cluster bilden die Umlaufbahnen der Neuentdeckungen zwei Scheiben, die das Schwarze Loch umgeben. „Sie stehen fast Kante auf Kante in einem Winkel von 45 Grad zur Hauptebene der Milchstraße“, berichten die Astronomen. „Der Grund für diese Anordnung ist unklar.“ Die Sterne könnte durch externe Störeinflüsse in diese ungewöhnlichen Bahnen gebracht worden sein oder auch durch Bahnresonanzen.
Wie sind diese Sterne entstanden?
Rätselhaft auch: Die Gezeitenkräfte im Umfeld des Schwarzen Lochs sind so stark, dass dort eigentlich gar keine Sterne entstehen können. Die Gravitationswirkung von Sagittarius A* würde ihre Entstehungswolken zerreißen, bevor sie sich zum Stern zusammenballen kann. Deshalb vermuten Astronomen, dass die Sterne der S-Population nachträglich eingefangen und in dieser Zone festgehalten wurden.
Einem Szenario nach geschah dies durch Doppelsterne, die in die Nähe des Schwarzen Lochs gerieten. „Sie werden auseinandergerissen“, erklären Peißker und sein Team. „Ein Stern gerät dadurch in einen Orbit, während der zweite Stern Energie auf Kosten seines Partners aufnimmt und als ‚Ausreißer‘-Stern ausgeschleudert wird.“ Dieser Hyperschnellläufer rast dann in hohem Tempo quer durch die Milchstraße. Bislang aber ist dies nur eine Hypothese.
Die Astronomen hoffen, dass künftig noch weitere Vertreter der S-Population im Milchstraßenzentrum entdeckt werden. „Wir werden sicher noch mehr superschnelle Sterne finden. Insbesondere mit dem Extremely Large Telescope, das derzeit in der Atacama-Wüste auf 5.000 Metern Höhe gebaut wird“, sagt Peißker. Das Teleskop soll 2025 in Betrieb gehen und wird dann das größte optischen und Nahinfrarot-Teleskop der Welt sein. (The Astrophysical Journal, 2020; doi: 10.3847/1538-4357/ab9c1c)
Quelle: Universität zu Köln