Warum kreisen so viele Monde im äußeren Sonnensystem verkehrt herum – gegen die Rotationsrichtung ihres Planeten? Eine Antwort könnte eine Beinahe-Katastrophe in der Frühzeit des Sonnensystems liefern: die nahe Passage eines anderen Sterns. Ein solcher Vorbeiflug hätte genügend Turbulenzen ausgelöst, um transneptunische Objekte aus ihrer Bahn zu werfen – und einige von ihnen auf Bahnen um die äußeren Planeten zu schleudern, wie Astronomen herausgefunden haben.
Unser Erdmond und viele andere Monde sind gemeinsam mit ihren Planeten entstanden. Deshalb umkreisen sie diese prograd – folgen also deren Rotationsrichtung. Doch das gilt nicht für alle Trabanten: Die Planeten des äußeren Sonnensystems, darunter Jupiter und Saturn, besitzen auffallend viele Monde, die sich irrregulär verhalten. Sie umkreisen ihren Planeten verkehrtherum – retrograd – und auf meist stark geneigten, elliptischen Umlaufbahnen.
„Bei Jupiter liegt der Anteil der retrograden zu prograden irregulären Monde bei 71:16, bei Saturn sogar 100:22“, berichten Susanne Pfalzner von Forschungszentrum Jülich und ihre Kollegen. Auch bei Uranus und Neptun überwiegt der Anteil der retrograden Trabanten unter den irregulären Monden.
Wer warf die Brocken aus ihrer Bahn?
Schon länger vermuten Astronomen, dass solche retrograden Monde „Fremdlinge“ sind: Sie wurden nicht gemeinsam mit ihrem Planeten gebildet, sondern von diesem nachträglich eingefangen. Als mögliche Ursprungsregion dieser Brocken gilt dabei der Kuipergürtel – die Region jenseits des Neptun, in der unzählige eisreiche Himmelskörper die ferne Sonne umkreisen. Damit diese Transneptunier jedoch zu Monden werden konnten, muss sie irgendetwas aus ihrer ursprünglichen Bahn geschleudert und in die Zone der Planeten umgelenkt haben.
Aber was? Bisher hatten Astronomen dafür vor allem die Wanderung des Jupiter und der anderen äußeren Planeten im Verdacht. Diese können jedoch nicht alle Eigenheiten der regulären Monde erklären. Pfalzner und ihr Team haben daher eine alternative Erklärung näher untersucht: den nahen Vorbeiflug eines fremden Sterns an unserem Sonnensystem. Solche Passagen kommen vor allem bei jungen Systemen in Sternenwiegen häufiger vor, einem solchen stellaren Besucher könnte das Sonnensystem sogar seine Entstehung verdanken.
Welche Folgen eine nahe Sternpassage für die transneptunischen Objekte des jungen Sonnensystems und seine Mondpopulation hätte, haben Pfalzner und ihre Kollegen nun in mehr als 3.000 Modellsimulationen rekonstruiert.
Turbulenzen durch eine kleinere Schwester der Sonne
Das Ergebnis: Eine nahe Sternpassage in der Frühzeit des Sonnensystems könnte sowohl die Bahnen transneptunischer Himmelskörper als auch die heutigen Positionen vieler irregulärer Monde in Sonnensystem erklären. „Sogar die Bahnen von sehr entfernten Objekten können dadurch hergeleitet werden, wie etwa die des Zwergplaneten Sedna im Kuipergürtel“, sagt Pfalzner. Gleiches gelte für Objekte, die sich auf Umlaufbahnen nahezu senkrecht zu den Planetenbahnen bewegen.
Der fremde Stern muss für diesen Effekt etwas leichter als unsere Sonne gewesen sein – etwa 0,8 Sonnenmassen. Außerdem flog er dem Modell zufolge in einem rund 70 Grad gegen die Planetenebene geneigten Winkel und in einer Sonnenentfernung von rund 16,5 Milliarden Kilometern vorbei. „Diese Entfernung entspricht etwa dem 110-fachen Abstand zwischen Erde und Sonne, oder etwas weniger als dem Vierfachen der Entfernung des äußersten Planeten Neptun zur Sonne“, berichtet Pfalzners Kollege Amith Govind.
Millionen Objekte nach innen geschleudert
Die Passage eines solchen Sterns kann auch die irregulären Monde des Sonnensystems erklären: Die von der Sternpassage ausgelösten Schwerkraftturbulenzen schleudern dem Modell zufolge zwar die meisten Objekte im Außenbereich des Sonnensystems nach außen oder sogar ganz aus unserem System heraus. Aber immerhin rund 7,2 Prozent der transneptunischen Brocken werden nach innen geschleudert. „Das entspricht bis zu zehn Millionen Objekten von 100 Kilometer Größe oder bis zu 10.000 Objekten größer als 1.000 Kilometer“, erklären die Astronomen.
„Einige dieser Objekte könnten dann von den Riesenplaneten als Monde eingefangen worden sein“, sagt Koautor Simon Portegies Zwart von der Universität Leiden. Sogar die je nach Planet unterschiedlichen Anteile der retrograden Monde ließen sich mit der Simulation reproduzieren. „In der Jupiterregion enden die transneptunischen Objekte rund 30-mal wahrscheinlicher in einem retrograden Orbit als in einem prograden“, berichten die Astronomen. Beim Saturn sind es rund 20 Prozent.
Zwar wurden die meisten dieser „Neuankömmlinge“ später wieder aus ihrer neuen Umlaufbahn geworfen, es blieben aber genug übrig, um die heutige Population der irregulären Monde zu bilden. „Die Schönheit dieses Modells liegt in seiner Einfachheit“, so Pfalzner. „Es beantwortet mehrere offene Fragen zu unserem Sonnensystem mit nur einer einzigen Ursache.“ (Nature Astronomy, 2024; doi: 10.1038/s41550-024-02349-x; The Astrophysical Journal Letters, 2024; doi: 10.3847/2041-8213/ad63a6)
Quelle: Forschungszentrum Jülich