Astronomie

„Unterwelt“ der Milchstraße aufgespürt

Astronomen rekonstruieren Verteilung von uralten "Sternenleichen" in unserer Galaxie

Milchstraße
Für uns unsichtbar bilden die Relikte toter Sterne eine weit ausladende galaktische Unterwelt in unserer Milchstraße. © University of Sydney

Geisterhafte Relikte: Astronomen ist es erstmals gelungen, die „Unterwelt“ der Milchstraße aufzuspüren – die für uns unsichtbaren Überreste uralter Supernovae. Dieser Friedhof von Neutronensternen und Schwarzen Löchern erstreckt sich demnach weit über die heutigen Grenzen der Galaxie hinaus. Ein Drittel dieser „Sternenleichen“ wurde sogar ganz aus der Milchstraße ausgeschleudert, wie das Team berichtet. Interessant auch: Das erdnächste stellare Schwarze Loch könnte nur knapp 70 Lichtjahre entfernt liegen.

Wenn massereiche Sterne das Ende ihres Lebenszyklus erreichen, lässt ihre Kernfusion nach und der Sternenkern kollabiert unter seiner eigenen Schwerkraft – es kommt zur Supernova. Diese Explosion hinterlässt eine sich ausbreitende Wolke aus glühendem Gas und Staub und – je nach Masse des Ausgangssterns – einen Neutronenstern oder ein Schwarzes Loch. In unserer Milchstraße müssen im Laufe der Zeit Milliarden dieser stellaren Überreste entstanden sein, aber sie zu finden, ist schwieriger als es auf den ersten Blick scheint.

Stellare „Geister“ mit asymmetrischem Kick

„Eines der Probleme beim Aufspüren dieser uralten Objekte ist, dass wir keine Ahnung haben, wo wir suchen müssen“, erklärt Koautor Peter Tuthill von der University of Sydney. „Die ältesten dieser Neutronensterne und Schwarzen Löcher wurden gebildet, als unsere Galaxie noch ganz anders geformt war. Im Laufe der Jahrmilliarden war sie zudem komplexen Veränderungen ausgesetzt.“ Tuthill vergleicht die alten Sternenreste mit Geistern, die in einem längst abgerissenen Haus herumspuken.

Erschwerend kommt hinzu, dass Sterne oft asymmetrisch explodieren. Dadurch bekommen die neu entstehenden Neutronensterne oder Schwarzen Löcher bei der Supernova einen Impuls, der sie nach einer Seite hin ausschleudert. „Diese Kicks zu rekonstruieren, war das größte Problem, das ich beim Aufspüren ihrer Verteilung lösen musste“, erklärt Erstautor David Sweeney von der University of Sydney. „Die Sternenrelikte werden mit enormer Geschwindigkeit – Millionen Kilometern pro Stunde – ausgeschleudert und das noch dazu in zufälliger und uns unbekannter Richtung.“

Um herauszufinden, wo sich diese stellaren Überreste verbergen und wie der „Friedhof“ der Milchstraße heute aussieht, mussten die Astronomen daher die Geschichte unserer Galaxie in ihrem Modell neu aufrollen und dabei die einstige Lage der Sterne, den Zeitpunkt ihrer Explosion und die mögliche Flugbahn der resultierenden Neutronensterne und Schwarzen Löcher rekonstruieren.

galaktische Unterwelt
Normale Ansicht der Milchstraße und Aussehen ihrer Unterwelt aus alten Neutronensternen und Schwarzen Löchern. © University of Sydney

Aufgebläht und ohne Arme

Das Resultat ist die erste Karte der galaktischen Unterwelt – der unsichtbaren Sphäre, in der sich die Reste uralter Sterne in unserer Milchstraße bewegen. „Das Ergebnis war fast ein Schock“, berichtet Sweeneys Kollege Sanjib Sharma. „Ich vermutete zwar leichte Unterschiede, hätte aber schon erwartet, dass die galaktische Unterwelt dem Aussehen der Milchstraße zumindest in groben Zügen ähnlich sein würde.“

Doch das ist nicht der Fall. „Die kompakten Relikte toter Sterne zeigen eine fundamental andere Verteilung und Struktur als die sichtbare Galaxie“, berichtet Sweeney. So hat die Unterwelt der Milchstraße keine Spiralarme und auch die typische flache Scheibenform erscheint wie aufgebläht. Während die sichtbare Sternenscheibe nur rund 1.000 Lichtjahre dick ist, bilden die uralten Sternenreste eine rund 4.100 Lichtjahre dicke Wolke. „Die galaktische Unterwelt ist damit gut dreimal dicker als die sichtbare Milchstraße“, sagt Sweeney.

Ein Drittel entflieht unserer Galaxie ganz

Noch überraschender jedoch: Viele der uralten Supernovae haben ihren Relikten einen so starken Impuls verliehen, dass diese ganz aus unserer Galaxie herausgeschleudert werden. „Durch diesen Kick haben 30 Prozent der Sternenreste ausreichend kinetische Energie, um dem galaktischen Gravitationspotenzial ganz zu entfliehen“, berichten die Astronomen. Dies gilt für rund 40 Prozent der Neutronensterne und zwei Prozent der stellaren Schwarzen Löcher – weil letztere massereicher sind, wirkt sich der Impuls der Supernova auf sie weniger stark aus.

STellare Relikte
Die stellaren Relikte sind weit über die Grenzen unserer sichtbaren Milchstraße hinaus verteilt. © University of Sydney

Als Folge dieses seit Milliarden Jahren stattfindenden Ausschleuderns hat die Milchstraße bis heute rund 0,4 Prozent ihrer stellaren Masse verloren, wie das Team ermittelte. Die unterschiedlich starke Wirkung des Supernova-Impulses hat zudem dazu geführt, dass der Anteil der stellaren Schwarzen Löcher in den inneren Zonen der Milchstraße höher ist als in den äußeren Bereichen der galaktischen Unterwelt. Insgesamt beziffern die Astronomen den Massenanteil der stellaren Unterwelt auf rund ein Prozent der stellaren Gesamtmasse der Milchstraße.

Verborgene Sternenrelikte auch in der solaren Nachbarschaft

„Eines der für mich coolsten Erkenntnisse aus unserer Arbeit ist aber, dass es selbst in der Nachbarschaft unserer Sonne solche geisterhaften Relikte gibt“, sagt Tuthill. Dem Modell der Astronomen nach könnte der nächste Neutronenstern nur rund 61 Lichtjahre von uns entfernt liegen, das nächste stellare Schwarze Loch nur rund 68 Lichtjahre. „Nach galaktischen Maßstäben ist das quasi in unserem Vorgarten“, sagt Tuthill.

Weil solche isoliert durchs All fliegenden Schwarzen Löcher aber meist inaktiv und dunkel sind, bleiben sie für uns unsichtbar. Neutronensterne wiederum leuchten zwar, sind aber mit nur zehn bis 15 Kilometer Durchmesser so klein, dass auch sie schwer zu finden sind. Unter anderem deshalb liegt das erdnächste bisher eindeutig nachgewiesene Schwarze Loch rund 1.500 Lichtjahre von uns entfernt im Sternbild Monocerus.

„Doch jetzt, da wir wissen, wo wir suchen müssen, können wir gezielt Methoden entwickeln, um sie aufzuspüren“, sagt Sweeney. „Ich wette, dass die galaktische Unterwelt nicht mehr sehr lange verborgen bleiben wird.“ (Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, 2022; doi: 10.1093/mnras/stac2092)

Quelle: University of Sydney

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