Überraschende Wirkung: Viele bewährte Medikamente eignen sich womöglich auch als Mittel gegen Krebs. Bei der Fahndung in einer Wirkstoff-Datenbank haben Forscher fast 50 Verbindungen identifiziert, die bestimmte Tumorzellen töten können – darunter Cholesterinsenker, Entzündungshemmer und Medikamente gegen Alkoholabhängigkeit. Diese „alten Bekannten“ könnten demnach der Schlüssel zu neuen Krebsmedikamenten sein.
Manche Medikamente können mehr als das, wofür sie eigentlich entwickelt wurden. Solche unerwarteten Wirkungen stellten Wissenschaftler etwa bei Aspirin fest. Als Folge wird das Mittel heute nicht mehr nur gegen Kopfschmerzen, sondern auch zur Vorbeugung von Herzinfarkt und Schlaganfall verschrieben. Ein weiteres Beispiel ist das ursprünglich als Blutdrucksenker gedachte Viagra, das Männern mit Erektionsproblemen, aber auch lungenschwachen Frühchen hilft oder Bergsteiger vor der Höhenkrankheit schützt. Das weit verbreitete Diabetesmittel Metformin hat sich dagegen inzwischen einen Namen als potenzieller Krebshemmer gemacht.
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Das Umfunktionieren bewährter Medikamente hat einen entscheidenden Vorteil: Die Wirkstoffe sind bereits eingehend geprüft und als sicher für die medizinische Anwendung befunden worden. Die Weiterentwicklung und Zulassung dieser Stoffe für ein zusätzliches Krankheitsbild ist somit schneller und einfacher möglich als bei einem komplett neu entwickelten Medikament, wie Steven Corsello vom Broad Institute in Cambridge und seine Kollegen erklären.
Aus diesem Grund haben die Wissenschaftler nun ganz bewusst nach möglichen Zweitnutzen bewährter Medikamente gefahndet. Ihr Ziel: neue Wirkstoffe gegen Krebs finden. Zu diesem Zweck durchsuchten die Wissenschaftler eine Datenbank mit 4.518 bereits zugelassenen oder zumindest in klinischen Studien als sicher erwiesenen Wirkstoffen: „Der sogenannte Drug Repurposing Hub unseres Instituts wurde eingerichtet, damit solche spannenden Entdeckungen künftig nicht mehr reiner Zufall sind“, sagt Corsello.
Wirksam gegen Krebszellen?
Für ihre Studie testeten die Forscher die Verbindungen aus dieser Datenbank an menschlichen Krebszellen – konkret untersuchten sie 578 Krebs-Zelllinien mit unterschiedlichen molekularen Eigenschaften. Jede dieser Zelllinien wurde mithilfe eines sogenannten DNA-Barcode-Verfahrens markiert. Dies erlaubte es Corsello und seinen Kollegen, mehrere Zelllinien in einer Petrischale zu behandeln und sie dennoch eindeutig zuzuordnen.
Wie stark würden sich die Wirkstoffe auf die Überlebensraten der Krebszellen auswirken? Tatsächlich zeigte sich: Auch unter den ursprünglich nicht als Tumormittel gedachten Medikamenten gab es Wirkstoffe, die bestimmte Krebszellen töten konnten. Insgesamt identifizierten die Wissenschaftler 49 nicht onkologische Verbindungen mit spezifischer Antikrebs-Wirkung. „Wir hätten uns schon glücklich geschätzt, nur einen Wirkstoff mit dieser Eigenschaft zu finden. Entsprechend überrascht waren wir, als es so viele wurden“, sagt Corsellos Kollege Todd Golub.
Vom Antisuchtmittel bis zum Hundemedikament
Unter den vielversprechenden Kandidaten waren Wirkstoffe aus ganz unterschiedlichen Anwendungsbereichen: von Entzündungshemmern über Medikamente gegen hohe Cholesterinwerte bis hin zu Mitteln, die für die Behandlung von Alkoholabhängigen zum Einsatz kommen. Sogar ein veterinärmedizinisches Medikament gehörte zu den Funden, wie das Forscherteam berichtet. Der Wirkstoff Tepoxalin wurde ursprünglich einmal für menschliche Patienten entwickelt, ist in den USA aber zur Therapie von Arthritis bei Hunden zugelassen.
Doch wie wirken diese pharmakologischen Verbindungen genau? „Die meisten gängigen Krebsmedikamente funktionieren, indem sie bestimmte Proteine blockieren“, erklärt Corsello. Zu den neu identifizierten Krebsmitteln gehörten jedoch auch Wirkstoffe, die die Zellen über einen anderen Mechanismus angreifen. Statt Proteine zu hemmen, aktivieren einige dieser Verbindungen demnach bestimmte Eiweiße oder stabilisieren Interaktionen zwischen einzelnen Proteinen.
Molekulares Profil als Hinweisgeber
Interessant auch: Wie effektiv ein Wirkstoff gegen eine bestimmte Krebs-Zelllinie war, konnten die Forscher vom genetischen Profil dieser Zellen ableiten – darunter bestimmte Mutationen oder epigenetische Veränderungen. So wirkte das Alkoholismus-Mittel Disulfiram zum Beispiel nur gegen Krebszellen mit Mutationen, die die Expression von Metallothionein-Proteinen hemmen.
„Die genomischen Eigenschaften der Zellen liefern uns erste Hinweise darauf, wie die einzelnen Medikamente wirken. Die Funktionsweise dieser Verbindungen genau zu verstehen, kann uns in Zukunft dabei helfen, neue Therapien zu entwickeln“, konstatiert Corsello. Dabei könnten die Zellmerkmale auch als Biomarker dafür dienen, wie wahrscheinlich ein bestimmtes Medikament bei einem Patienten anschlagen wird.
Ein Ansatz mit Potenzial
Alles in allem sehen die Wissenschaftler großes Potenzial in ihrem Ansatz: „Angesichts der unerwartet großen Zahl von Entdeckungen, die aus diesem ersten Screening hervorgegangen sind, sind unserer Meinung nach weiterführende Untersuchungen angebracht“, erklären Corsello und seine Kollegen.
In Zukunft wollen sie daher nicht nur die bereits identifizierten Wirkstoffkandidaten genauer unter die Lupe nehmen und an zusätzlichen Krebsmodellen testen. Sie planen auch, noch mehr alte Medikamente auf ihre krebshemmende Wirkung hin zu untersuchen. „Wir verfügen nun über einen großartigen ersten Datensatz. Doch eine Erweiterung unseres Ansatzes wird sicherlich sehr nützlich sein“, schließt Corsello. (Nature Cancer, 2020; doi: 10.1038/s43018-019-0018-6)
Quelle: Broad Institute of MIT and Harvard