Was ist ein Embryo? Angesichts jüngster Fortschritte bei embryoähnlichen Zellensembles aus Stammzellen plädieren Forschende für eine neue Definition. Denn bisher sind solche Embryo-Analoga nicht vom Embryonenschutzgesetz erfasst. Deshalb soll die Schutzwürdigkeit eines menschlichen Embryos künftig nicht mehr davon abhängen, wie er entstanden ist. Stattdessen sollte entscheidend sein, ob sich solche Zellensembles zu lebensfähigen Individuen entwickeln könnten, so der Vorschlag der Wissenschaftler im Fachmagazin „Cell“.
Die Forschung an menschlichen Embryonen ist in Deutschland durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Das Gesetz schützt alle Embryos, die aus einer befruchteten menschlichen Eizelle entstanden sind, und verbietet Eingriffe in die menschliche Keimbahn. Doch angesichts wissenschaftlicher Fortschritte weist es gravierende Lücken bei der Definition von Embryonen auf.
Forschung im ethischen Grenzbereich
So berichtete ein Forschungsteam im Juni 2023 erstmals, dass es erfolgreich embryoähnliche Zellkomplexe aus menschlichen Stammzellen gezüchtet hat – ganz ohne Eizelle oder Spermium. Da diese Modelle rechtlich nicht als Embryonen zählen, ist die Forschung an ihnen in Deutschland und international kaum reguliert. Dennoch brach das Team das Experiment aus ethischen Gründen nach 14 Tagen ab, so wie es in vielen Ländern der Welt für die Forschung an menschlichen Embryonen vorgeschrieben ist.
Ähnliche Embryo-Analoga aus Mäusestammzellen ließen Forschende dagegen bereits so lange wachsen, bis sich ein schlagendes Herz entwickelte. Ein chinesisches Forschungsteam hat sogar bereits Chimären-Embryos aus Affen und Menschen gezüchtet. Auch dieses ethisch höchst umstrittene Experiment wäre nach dem aktuellen Embryonenschutzgesetz in Deutschland erlaubt, da lediglich menschliche Stammzellen als Ausgangsmaterial verwendet wurden.
Verfeinerte rechtliche Definition nötig
Ein internationales Team um Nicolas Rivron von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien hat nun einen Diskussionsbeitrag veröffentlicht, in dem die Wissenschaftler dafür plädieren, neu zu definieren, was als Embryo eingestuft wird. „Da Modelle menschlicher Embryonen dem menschlichen Embryo immer ähnlicher werden, ist eine verfeinerte rechtliche Definition des menschlichen Embryos erforderlich, um die Bedingungen festzulegen, unter denen den Modellen ein ähnlicher Schutz gewährt werden könnte“, schreibt das Team.
Rivron erklärt: „Unsere Vorschläge sind Teil der Bemühungen, Klarheit in die laufende Forschung zu bringen – um die Arten von Strukturen, die im Labor gebildet werden, besser zu klassifizieren, die rechtliche Definition von menschlichen Embryonen zu verfeinern und zu bestimmen, was Modelle und Embryonen aus rechtlicher Sicht unterscheidet.“
Ergebnis statt Ursprung entscheidend
Aus Sicht von Rivron und seinen Kollegen ist die Definition eines Embryos als Produkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle nicht mehr zeitgemäß. „Wir schlagen eine Definition des menschlichen Embryos vor, die sich darauf konzentriert, was er werden kann, und nicht darauf, wie er entstanden ist“, erklärt Rivron. Damit wären auch Embryonen aus Stammzellen rechtlich den klassischen Embryonen gleichgestellt.
Der Vorschlag des Autorenteams: Als menschlicher Embryo zählt stattdessen ein Zellensemble, das das Potenzial hat, einen lebensfähigen Fötus zu bilden. Außerdem sollte ein solcher Embryo neben den Komponenten des eigentlichen Fötus auch die sogenannten extraembryonalen und uterinen Gewebe ausbilden können – die Zelllinien des menschlichen Embryos, aus denen in der Gebärmutter der Dottersack und Teile der Plazenta gebildet werden.
Wann ist die Schwelle erreicht?
Die bisher in den Laboren gezüchteten Embryo-Analoga erfüllen diese Definition noch nicht. Nach aktuellem Wissensstand wäre keines dieser Zellensembles in der Lage, einen lebensfähigen Fötus hervorzubringen. Ob dies allerdings der Fall ist, ist im Rahmen der bestehenden Gesetze schwer herauszufinden. Denn dafür müsste ein solcher Pseudo-Embryo in eine Gebärmutter eingepflanzt werden – was gemäß den Richtlinien der Internationalen Gesellschaft für Stammzellenforschung (ISSCR) verboten ist.
Rivron und sein Team machen daher zwei Vorschläge, wie sich feststellen lässt, wann die Schwelle zum Embryo überschritten ist. Erstens sollte die weitere Forschung mit menschlichen Embryomodellen schrittweise erfolgen, wobei für jeden Schritt geprüft wird, inwieweit das jeweilige Entwicklungsstadium mit einem Embryo, der aus einer befruchteten Eizelle hervorgegangen ist, übereinstimmt.
Zweitens sollten entsprechende Embryo-Analoga bei Tieren getestet werden, die dem Menschen möglichst ähnlich sind, darunter Schweine und nicht-menschliche Primaten. Bei diesen ist die Übertragung in die Gebärmutter erlaubt. Sollten dabei aus den Zellensembles tatsächlich lebende Tiere entstehen, hätte das Modell aus Sicht der Autoren die Schwelle zum Embryo überschritten und müsste ethisch und regulatorisch gemäß den jeweiligen Gesetzen für Embryonen behandelt werden.
Kein Embryo ohne Uterus?
„Die embryologische Forschung steht vor einer absehbaren Zeitenwende“, kommentiert Rüdiger Behr vom Leibniz-Institut für Primatenforschung in Göttingen, der nicht an der Veröffentlichung beteiligt war. Eine Neudefinition des Begriffs Embryo ist daher aus seiner Sicht notwendig. Die Definition von Rivron und seinem Team hält er allerdings für sehr eng gefasst – vor allem, weil in diesem Vorschlag die Umgebung der sich entwickelnden Zellgruppe für die Einstufung als Embryo erforderlich ist.
„In Zeiten, in denen künstliche Uteri entwickelt werden, könnte ein solcher künstlicher Uterus, der die Entwicklung eines Embryos unterstützt, einfach abgeschaltet werden. Durch das Abschalten dieses ‚Elements‘ würde der Embryo seinen Status als Embryo verlieren“, gibt Behr zu bedenken.
Stefan Schlatt vom Universitätsklinikum Münster, der ebenfalls nicht an der Veröffentlichung beteiligt war, weist auf eine weitere Implikation der vorgeschlagenen Definition hin: „Die Neudefinition des Embryos lässt sich auch umdrehen“, erklärt er. „Ein menschlicher Embryo entsteht erst und nur im Uterus einer der Einnistung zustimmenden Mutter.“
Aufgabe der Gesetzgebung
Auch wenn die konkrete Ausgestaltung einer neuen Definition noch mit vielen Fragen behaftet ist, hält Behr es für wichtig, dass die neuen Embryomodelle überhaupt rechtlich miterfasst werden. „Insofern verstehe ich die veröffentlichte Arbeit auch als einen Hilferuf der Wissenschaft an die jeweiligen Gesetzgeber, in diesem so wichtigen Forschungsfeld zu einem von der gesellschaftlichen Mehrheit getragenen und möglichst breiten Konsens zu kommen.“ (Cell, 2023, doi: 10.1016/j.cell.2023.07.028)
Quelle: Cell Press, Science Media Center