Symptom der modernen Gesellschaft: Die Gelenkerkrankung Arthrose kommt heute doppelt so häufig vor wie noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das Überraschende: Diese Entwicklung lässt sich weder durch die alternde Bevölkerung, noch durch die Zunahme von Fettleibigkeit erklären. Demnach muss es weitere, für unsere Gesellschaft typische Faktoren geben, die den krankhaften Verschleiß der Gelenke begünstigen, so die Vermutung der Forscher.
Wenn das Knie schmerzt, es knirscht oder knackt und sich nur schwer bewegen lässt, könnte eine Arthrose dahinter stecken: eine krankhafte Abnutzungserscheinung des Gelenks. Die Ursachen der degenerativen Verschleißerkrankung sind vielfältig. Zu den wichtigsten Risikofaktoren einer Arthrose im Knie zählen jedoch anhaltende Überbelastungen, etwa durch starkes Übergewicht, und natürliche Alterungsprozesse.
Das ist auch der Grund dafür, warum Wissenschaftler die Erkrankung oft als Symptom unserer modernen Gesellschaft deuten. Denn die Menschen werden nicht nur immer älter, sondern auch immer dicker. „Man geht davon aus, dass die Kniearthrose seit dem Beginn des post-industriellen Zeitalters häufiger geworden ist“, sagt Ian Wallace von der Harvard University in Cambridge. Stichhaltige Belege für diese Annahme gab es allerdings nicht – bis jetzt.
Spurensuche unter Toten
Nun haben Wallace und seine Kollegen untersucht, ob und wenn ja inwiefern sich die Häufigkeit der Gelenkerkrankung im Laufe der Geschichte der Menschheit verändert hat. Zu diesem Zweck analysierte das Team die sterblichen Überreste von 2.000 Individuen aus den USA. Diese hatten entweder während der frühen industriellen Ära zwischen 1800 und 1900 oder aber zwischen dem späten 20. und dem frühen 21. Jahrhundert gelebt. Zusätzlich nahmen die Forscher 176 prähistorische Skelette von Jägern und Sammlern sowie frühen Farmern unter die Lupe.
Ihre Suche nach verräterischen Veränderungen in den Kniegelenksknochen offenbarte einen deutlichen Unterschied: Während in der post-industriellen Stichprobe sechzehn Prozent der Skelette zu Lebzeiten an Arthrose gelitten hatten, waren es in der früh-industriellen und in der prähistorischen lediglich sechs beziehungsweise acht Prozent. „Damit zeigen wir zum ersten Mal, dass diese Form der Arthrose in den letzten Jahrzehnten dramatisch zugenommen hat“, schreiben die Wissenschaftler.
Verdoppeltes Risiko
Die eigentliche Überraschung ist aber: Dieser Trend ist offenbar nicht allein durch die veränderte Altersstruktur und die Häufung von Fettleibigkeit in unserer Gesellschaft erklärbar. „Weil wir über unsere verstorbenen Probanden auch Informationen zu Geschlecht, Alter, Körpergewicht, Ethnizität und in vielen Fällen sogar zum Beruf hatten, konnten wir etliche mitbestimmende Einflussgrößen herausrechnen“, erklärt Wallaces Kollege Daniel Lieberman.
Selbst nach dieser Korrektur zeigte sich, dass die Kniearthrose in unserem modernen Zeitalter rund 2,1-mal häufiger vorkommt als zur Zeit der frühen industriellen Ära. „Wer nach dem zweiten Weltkrieg geboren wurde, für den ist die Wahrscheinlichkeit, an dem Gelenkverschleiß zu erkranken, circa doppelt so hoch wie für einen früher geborenen Menschen – bei gleichem Alter und gleichem BMI“, sagt Lieberman.
„Vermeidbare Erkrankung“
Die Forscher schlussfolgern daraus: Neben Alter und Gewicht muss es noch weitere, für unsere moderne Gesellschaft typische Faktoren geben, die die Entstehung von Arthrose begünstigen. Welche das sind, sollen nun nachfolgende Studien zeigen. Schon jetzt sei aber klar: „Die Kniearthrose ist nicht zwangsläufig eine Folge hohen Alters. Wir sollten sie daher stärker als ohnehin schon als vermeidbare Erkrankung begreifen, der man vorbeugen kann“, so Lieberman. Bisher konzentriere sich die Medizin in diesem Bereich viel zu wenig auf Prävention.
Dies sei aber wichtig, da eine Arthrose die betroffenen Gelenke auf Dauer nachhaltig schädigen könne – nicht selten wird bei fortgeschrittenem Verschleiß ein künstliches Gelenk erforderlich, um die Beweglichkeit des Knies zu erhalten. „Durch die starken Schmerzen werden Patienten im Krankheitsverlauf außerdem immer passiver – und das kann dann zu einer Vielzahl weiterer Probleme führen und die Gesundheit der Betroffenen noch weiter einschränken“, schließt der Forscher. (Proceedings of the National Academy of Sciences, 2017; doi: 10.1073/pnas.1703856114)
(Harvard University, 15.08.2017 – DAL)