Von wegen inaktiv: Einige Zusatzstoffe von Medikamenten könnten unerkannte biologische Wirkungen entfalten, wie eine Studie enthüllt. Forscher identifizierten darin knapp 40 Füllstoffe, Konservierungsmittel, Farbstoffe und andere Zusätze, die entgegen früheren Annahmen doch mit menschlichen Proteinen wechselwirken. Das bedeute zwar nicht, dass all diese Stoffe schädlich seien, sollte aber weiter untersucht werden, betonen die Wissenschaftler im Fachmagazin „Science“.
Ob Kopfschmerztablette, Hautsalbe oder Antibiotikum: Bei den meisten Arzneimittel macht der medizinische Wirkstoff nur einen geringen Teil des gesamten Präparats aus, der größte Teil sind Zusatzstoffe. Zu ihnen gehören Füllstoffe und Stabilisatoren wie Laktose und Pektin, Konservierungsmittel, Farbstoffe oder Substanzen, die die Löslichkeit der Wirkstoffe im Darm regulieren.
Voraussetzung für den Einsatz solcher Zusatzstoffe ist, dass sie biologisch inaktiv sein müssen. Sie dürfen keine medizinische Wirkung entfalten und sollten im Idealfall gar nicht mit menschlichen Zellen oder Biomolekülen reagieren.
Wie inaktiv sind die Zusatzstoffe wirklich?
Das Problem jedoch: „Die Einstufung dieser Stoffe als ‚inaktiv‘ geht meist nur auf eine gute Verträglichkeit in Tierversuchen zurück oder auf historische Erfahrungen“, erklären Joshua Pottel von der University of California in San Francisco und seine Kollegen. „Auf welche Weise diese Substanzen mit Molekülen interagieren, blieb aber weitgehend unerforscht.“ Wie biologisch inert diese Zusatzstoffe im menschlichen Körper tatsächlich sind, ist daher unklar.
Deshalb haben Pottel und sein Team nun fast 3.300 gängige Zusatzstoffe von Arzneimitteln auf ihre molekularen Wechselwirkungen hin überprüft. Dafür nutzten sie zunächst ein Computerprogramm, das die Bindungsfähigkeit dieser Stoffe mit mehr als 3.000 in menschlichen Zellen und Geweben vorkommenden Proteinen testete. Dabei ergaben sich 69 Substanzen, die solche Bindungen eingehen und damit potenziell eine biologische Wirkung verursachen könnten.
Für diese 69 Zusatzstoffe führten die Wissenschaftler Labortests durch, in denen sie die Substanzen direkt mit ausgewählten menschlichen Enzymen und mit Zellkulturen reagieren ließen.
Einstufung als „inaktiv“ widerlegt
Das Ergebnis: 38 vermeintlich inerte Zusatzstoffe können an menschliche Proteine binden und biochemische Veränderungen in Zellen und Geweben hervorrufen – teilweise schon in relativ geringen Konzentrationen. „Es war überraschend, wie potent einige dieser Zusatzstoffe waren, vor allem wenn man die relativ hohen Mengen berücksichtigt, in denen sie in typische Präparaten eingesetzt werden“, sagt Pottel.
So hemmt das gängige Antioxidationsmittel Propylgallat unter anderem die Zellteilung von Abwehrzellen, Gefäßzellen und Bindegewebszellen, das häufig eingesetzte Konservierungsmittel Butylparaben beeinflusst Proteine, die Entzündungsvorgänge regulieren, und könnte immunsuppressiv wirken. Das als antimikrobielles Konservierungsmittel in Augentropfen, Impfstoffen und Kosmetika eingesetzte Thiomersal bindet an einen Dopaminrezeptor und erwies sich in Konzentrationen von mehr als 3,3 Mikromol als zelltoxisch.
Verborgener Effekt teils stärker als echte Wirkstoffe
„Unsere Studie zeigt damit, dass viele vermeintlich inaktive, in vielen Arzneimitteln eingesetzte Zusatzstoffe in vitro auf biologische relevante Enzyme, Rezeptoren, Ionenkanäle und Transportermoleküle wirken können“, berichten Pottel und sein Team. „Diese Aktivitäten waren teilweise potenter als die einiger therapeutischen Wirkstoffe.“ Da viele dieser Subtanzen zudem auch in Kosmetika, Nahrungsmitteln und Getränken verwendet werden, könnte sich ihre Wirkung addieren.
Das allerdings bedeute nicht, dass diese Zusatzstoffe deswegen akut giftig oder schädlich seien, betonen die Forscher. Denn ihre Studie zeige erst einmal nur, dass diese Substanzen mit biologische relevanten Proteinen interagieren können. „Das demonstriert aber noch nicht, dass diese aktiven Zusatzstoffe auch toxische Effekte nach sich ziehen“, sagen Pottel und sein Team. Zudem betonen sie, dass die Mehrheit der getesteten Zusatzstoffe sich als tatsächlich inaktiv erwiesen hat – nur für eine Minderheit wurde dies widerlegt.
Nebenwirkungen nicht ausgeschlossen
Ob und in welchem Maße die jetzt identifizierten Zusatzstoffe im Körper des Menschen schädlich sind, muss erst noch getestet werden. Trotzdem halten die Forscher es für durchaus möglich, dass zumindest einige der Substanzen bisher verborgene Nebenwirkungen entfalten können – vor allem bei Menschen, die viele Medikamente einnehmen müssen, wie beispielsweise ältere Personen oder chronische Kranke.
Hinzu kommt: „Viele der hier aufgefallenen Zusatzstoffe wie Propylgallat, Butylparaben oder Tartrazin werden auch als Lebensmittel- und Kosmetikzusätze verwendet, und dies oft in größere Dosis als in Medikamenten“, sagen Pottel und seine Kollegen. Sie sollten daher in jedem Fall genauer überprüft werden. Generell empfehlen die Wissenschaftler, die jetzt identifizierten 38 biologisch doch aktiven Zusatzstoffe gegen solche auszutauschen, die wirklich inert sind. (Science, 2020; doi: 10.1126/science.aaz9906)
Quelle: Science, University of California – San Francisco