Große Unklarheiten: Nicht jeder, der sich mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert, erkrankt an Covid-19 – so viel scheint klar. Doch wie hoch der Anteil dieser asymptomatischen Fälle ist, darüber gibt es bislang nur weit auseinandergehende Zahlen. So kam die „Heinsberg“-Studie in Deutschland auf 22 Prozent symptomlose Fälle, aber Mediziner in Italien und China ermittelten rund 40 Prozent. Auf einem Kreuzfahrtschiff blieben sogar 80 Prozent der Infizierten ohne Krankheitssymptome.
Diese Eigenheit macht die Corona-Pandemie besonders schwer beherrschbar: Wer sich mit SARS-CoV-2 ansteckt, merkt manchmal gar nichts davon – kann aber das Virus trotzdem an andere weitergeben. Von Kindern ist schon länger bekannt, dass sie nach einer Infektion besonders oft symptomlos bleiben, aber auch junge Erwachsene zeigen tendenziell häufiger sehr milde Verläufe oder gar keine Symptome.
Nur wenige aussagekräftige Erhebungen
Aber wie hoch ist der Anteil solcher asymptomatischen Infektionen bei SARS-CoV-2? Diese für die Pandemie-Bekämpfung wichtige Frage ist schwer eindeutig zu beantworten. Denn bislang gibt es nur wenige Studien, bei denen Forscher beispielsweise eine gesamte Bevölkerungsgruppe oder Ortschaft systematisch auf eine akute oder bereits überstandene Coronavirus-Infektion hin getestet haben. Wenn dagegen, wie bisher meist der Fall, nur Patienten mit Beschwerden einen Test erhalten, bleibt die Dunkelziffer zwangsläufig hoch.
Ein Beispiel für eine solche Erhebung in Deutschland war die sogenannte „Heinsberg“-Studie. Bei dieser hatten Epidemiologen eine Stichprobe von 600 Menschen und ihren Haushaltsmitgliedern im Ort Gangelt in Nordrhein-Westfalen getestet – einem frühen Hotspot der Corona-Pandemie. Dabei kam man auf einen Anteil von 22 Prozent asymptomatischer Fälle.
Gut 40 Prozent Symptomlose in Italien und China
Doch inzwischen lassen mehrere Studien vermuten, dass der Anteil solcher symptomlos Infizierter erheblich höher sein könnte. Schon im April 2020 berichteten Forscher um Enrico Lavezzo von der Universität Padua von einer Reihentestung im kleinen italienischen Örtchen Vò, bei der 85 Prozent aller Einwohner untersucht wurden. Das Ergebnis: Von den 2,6 Prozent mit SARS-CoV-2 Infizierten waren 43 Prozent asymptomatisch geblieben.
Auf einen ähnlichen Wert kommen auch Rongrong Yang und sein Team aus Wuhan. Bei Tests von 78 Kontaktpersonen von Covid-19-Patienten erwiesen sich 33 der Untersuchten als symptomlos infiziert – das entspricht ebenfalls knapp 43 Prozent. Unter diesen asymptomatischen Fällen waren vor allem junge Erwachsene und zu 66 Prozent Frauen, wie die Forscher berichten.
80 Prozent „versteckte“ Infektionen auf einem Schiff
Noch extremer ist das Ergebnis einer Studie, bei der Forscher alle 217 Passagiere und Crewmitglieder eines kleinen Kreuzfahrtschiffs getestet haben. Das Schiff war Mitte März im argentinischen Hafen Ushuaia mit Kurs auf die Antarktis gestartet – die Expeditionstour sollte drei Wochen lang den Spuren des Polarforschers Ernest Shackleton folgen. Doch am achten Tag der Fahrt entwickelte der erste Passagier Fieber, bald darauf erkrankten weitere.
Das Schiff wurde unter Quarantäne gestellt und am 20. Tag nach Abfahrt wurden alle Menschen an Bord mittels PCR auf SARS-CoV-2 getestet. „Unseres Wissens nach ist das das erste Mal, dass während der Corona-Pandemie Passagiere und Besatzung eines isolierten Schiffs vollständig getestet wurden“, sagen Alvin Ing von der Macquarie University in Sydney und seine Kollegen.
Das Ergebnis: 128 der 217 Menschen an Bord hatten sich mit dem Coronavirus infiziert – aber 104 von ihnen blieben völlig symptomfrei. Dies entspricht einem Prozentsatz von 81 Prozent. Inwieweit unter diesen auch falsch-positive Fälle sind, bleibt mangels Nachtestungen zwar unklar. Dennoch deutet dieses Ergebnis darauf hin, dass asymptomatische Fälle häufiger sein könnten als bislang angenommen.
Was bedeutet dies für die aktuelle Sitatuation?
Zusammengenommen belegen diese Studien, dass es bislang eine erhebliche Unsicherheit darüber gibt, wie viele Menschen bei einer Coronavirus-Infektion tatsächlich symptomlos bleiben. Die Ergebnisse deuten aber darauf hin, dass der Anteil der asymptomatischen Fälle erheblich höher liegen könnte, als es die Heinsberg-Studie nahelegte.
Das hat mögliche Konsequenzen auch für die Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie. Denn es zeigt einerseits, wie wichtig es ist, auch Menschen ohne klare Covid-19-Symptome zu testen, wenn die Kapazität vorhanden ist. Zum anderen aber bestätigt es, dass Schutzmaßnahmen wie Social Distancing und Mund-Nasen-Schutz auch jetzt noch durchaus sinnvoll sein können.
Darüber hinaus könnte ein höherer Anteil symptomloser Fälle auch bedeuten, dass schon mehr Menschen in der Bevölkerung die Infektion unbemerkt hinter sich gebracht haben als offiziell erfasst. Sie wären damit höchstwahrscheinlich gegen eine erneute Ansteckung immun. Allerdings: Diese Herdenimmunität reicht nach Einschätzung vieler Virologen bislang bei uns nicht aus, um die Pandemie komplett zu stoppen. (medRxiv, doi: 10.1101/2020.04.17.20053157; JAMA Network Open, doi: 0.1001/jamanetworkopen.2020.10182; BMJ Thorax, doi: 10.1136/thoraxjnl-2020-215091)
Quelle: BMJ, JAMA, medRxiv