Dynamische Anpassung: Gleich mehrere Mutationen des Coronavirus lösen Sorge aus – nicht nur wegen ihrer erhöhten Infektiosität. Einige dieser Varianten tragen auch Mutationen, die auf eine beginnende „Flucht“ vor unserer Immunantwort hindeuten könnten. Ob SARS-CoV-2 in absehbarer Zukunft dadurch immun gegen die neuen Impfstoffe werden könnte, ist noch unklar. Immerhin zwei von vier Erkältungs-Coronaviren scheinen aber häufiger solche Fluchtmutationen zu bilden, wie eine Studie belegt.
Schon seit Beginn der Corona-Pandemie hat sich SARS-CoV-2 immer wieder leicht verändert. Einige dieser Mutationen sind heute weltweit dominant, andere haben sich wieder totgelaufen, wie die in Nerzen entstandene Cluster-5-Mutation. Die meisten hatten jedoch nur wenig Einfluss auf die Infektiosität und die Schwere des Verlaufs bei Covid-19.
Neue Varianten mit geballten Mutationen
Doch in den letzten Wochen sind gleich mehrere Coronavirus-Varianten entdeckt worden, die Medizinern Sorge bereiten. Zu ihnen gehört die britische Variante B.1.1.7, eine in Südafrika neu aufgetretene Virenlinie und eine im Januar 2021 in Brasilien nachgewiesene Variante. Ihnen ist gemeinsam, dass sie gleich mehrere Mutationen aufweisen, von denen einige offenbar die Infektiosität des Virus verstärken.
Diese geballt auftretenden Mutationen wecken aber noch eine andere, entscheidende Frage: Wie groß ist die Gefahr, dass das Coronavirus sogenannte Flucht-Mutationen ausbildet? Als „Escape-Mutation“ bezeichnen Forscher Genveränderungen, durch die ein Virus die Immunantwort seines Wirts unterlaufen kann. Meist geschieht dies, indem sich die viralen Proteinstrukturen verändern, an denen die Antikörper und Abwehrzellen des Immunsystems ansetzen.
Als Folge solcher Mutationen kann der Immunschutz nach durchlebter Erkrankung oder auch nach einer Impfung abgeschwächt oder sogar unwirksam werden.
E484-Mutation schwächt Immunantwort…
Welche der schon nachgewiesenen Mutationen die menschliche Immunantwort zumindest behindern, haben unter anderem Forscher um Allison Greaney von der University of Washington in Seattle kürzlich untersucht. Sie testeten an Zellkulturen, wie sich verschiedene Mutationen auf die Bindung von Antikörpern aus dem Blutserum Genesener Covid-19-Patienten auswirkten – und was dies für die Neutralisierung des Coronavirus bedeutet.
Das Ergebnis: „Die Stelle, an der Mutationen den größten Effekt auf die Antikörper-Bindung und Neutralisation haben, ist unglücklicherweise E484 – der Ort, an dem mehrere aktuelle Coronavirus-Varianten eine Mutation tragen“, berichten die Forscher. Diese E484-Mutation liegt in der Rezeptor-Bindungsregion des Virus und ist in der südafrikanischen und brasilianischen Mutante von SARS-CoV-2 vorhanden. In den Versuchen verringerte diese Mutation die Wirkung der Antikörperseren um das Zehnfache.
„Die in Südafrika und Brasilien auftretenden Varianten mit dieser E484K-Mutation werden daher eine deutlich verringerte Anfälligkeit gegenüber den polyklonalen Serum-Antikörpern einiger Patienten haben“, schreiben Greaney und ihr Team.
…aber nicht bei allen
Was aber bedeutet dies für den Verlauf der Pandemie und unseren Immunschutz? Greaney und ihre Kollegen betonen, dass ihre Ergebnisse nicht heißen, dass Impfstoffe oder unsere natürliche Immunantwort auf SARS-CoV-2 nun zehnmal weniger wirksam sind. Denn die meisten Menschen produzieren Antikörper nicht nur gegen eine Stelle des viralen Proteins, sondern gegen mehrere verschiedene.
Zudem gibt es individuelle Unterschiede in der Antikörper-Zusammensetzung: „Die neutralisierende Wirkung mehrerer Serumproben war zwar um das Zehnfache reduziert, es gab aber auch einige Proben, die von der E484-Mutation kaum beeinträchtigt waren“, berichten sie. Bei diesen war die Antikörper-Population demnach vielfältig genug, um das Virus durch Angriff an anderen Stellen auszuschalten.
Durchseuchung begünstigt Flucht-Mutationen
Allerdings: Die Ergebnisse belegen klar, dass das Coronavirus schon erste Flucht-Anpassungen an unsere Immunsystem gebildet hat. Virologen gehen davon aus, dass solche Escape-Mutationen vor allem dort entstehen, wo die Bevölkerung zumindest schon teilweise gegen das Virus immunisiert sind. Denn dann setzen sich vor allem die Mutanten durch, die sich trotzdem noch verbreiten können. Wissenschaftler sprechen dann von einer Antigen-Drift oder Antigen-Evolution.
Es daher vermutlich kein Zufall, dass sich die E484K-Mutation vor allem in Brasilien und Südafrika entwickelt und verbreitet hat: Weil SARS-CoV-2 dort vor allem in den Armenvierteln nahezu ungehindert grassiert, liegt der Durchseuchungsgrad der Bevölkerung teils bei 40 bis 50 Prozent. „Unter diesen Bedingungen begünstigt der Selektionsdruck Virusmutanten, die sich trotz dieser Immunität ausbreiten können“, erklärt Andrew Pollard von der Oxford University im Fachmagazin BMJ.
Bestätigt wird dies auch durch Berichte von Re-Infektionen in Brasilien: Dort haben sich offenbar bereits einige Menschen mit der neuen Coronavirus-Mutante angesteckt, die nachweislich schon eine frühere Infektion hinter sich hatten.
Was uns die Erkältungs-Coronaviren verraten
Doch wie groß ist die Gefahr, dass SARS-CoV-2 demnächst vielleicht noch wirksamere Flucht-Mutationen ausbildet? Das wollten Kathryn Kistler und Trevor Bedford vom Fred Hutchinson Cancer Research Center in Seattle durch eine Untersuchung der vier schon bekannten Erkältungs-Coronaviren herausfinden. Diese Viren – OC43, 229E, NL63 und HKU1 – kursieren schon seit Jahrzehnten in der menschlichen Bevölkerung.
„Einige dieser Coronaviren können Menschen mehrfach infizieren, aber es ist unklar, in welchem Maße dies auf eine Antigen-Anpassung zurückgeht“, erklären die Forscher. „Wir wollten daher untersuchen, ob diese mit SARS-CoV-2 verwandten Coronaviren Anpassungen gegen unser Immunsystem entwickelt haben.“ Dafür verglichen sie hunderte Erbgutsequenzen der vier Erkältungs-Coronaviren, die im Laufe von über 50 Jahren erstellt worden sind.
Antigen-Anpassung bei zwei von vier
„Wenn die Coronaviren eine Antigen-Drift durchmachen, dann müssten wir anpassende Mutationen im Spike-Protein und insbesondere der S1-Domäne dieses Proteins sehen“, erklären Kistler und Bedford. Tatsächlich ist dies bei zwei der vier Erkältungsviren der Fall: Bei dem enger mit SARS-CoV-2 verwandten Betacoronavirus OC43 und dem Alphacoronavirus 229E. Sie haben im Schnitt 0,3 bis 0,5 solcher Einzelmutationen pro Jahr entwickelt – etwa halb so viele wie einige Influenzaviren.
Keinen Hinweis auf eine Antigen-Drift fanden die Forscher beim Erkältungsvirus NBL63. Für das ebenfalls enger mit SARS-CoV-2 verwandte Betacoronavirus HKU1 waren die Befunde dagegen nicht eindeutig – es liegen bisher zu wenig Daten vor. „Es ist möglich, dass eine vollständigere genetische Zeitreihe von HKU1 die Ergebnisse noch verändert“, so die Wissenschaftler. „Damit haben wir Belege dafür, dass mindestens zwei von vier saisonalen Coronaviren Anpassungen am Spike-Protein entwickelt haben.“
Und SARS-CoV-2?
Was aber bedeutet dies für SARS-CoV-2? Klar scheint, dass zumindest einige der schon beim Menschen kursierenden Coronaviren relativ zügig Flucht-Mutationen ausbilden. Das ist auch der Grund, warum man sich mehrfach im Leben mit diesen Viren anstecken und eine Erkältung bekommen kann. Weil diese Antigen-Drift aber bislang bei HKU1 nicht eindeutig nachgewiesen ist, bleibt vorerst offen, ob möglicherweise alle Alphacoronaviren – und damit auch SARS-CoV-2 – diese Fähigkeit besitzen.
„Wenn aber SARS-CoV-2 sich ähnlich entwickelt wie der eng verwandte OC43, dann kann es sein, dass die Impfstoffe gegen Covid-19 häufiger angepasst werden müssen – ähnlich wie bei den Grippe-Impfstoffen“, so Kistler und Bedford. (BioRxiv Preprint, 2021; doi: 10.1101/2020.12.31.425021; eLife, 2021; doi: 10.7554/eLife.64509)
Quelle: BMJ, Science, BioRxiV, MedRxiV, eLife