Therapieerfolg im Blick: Forscher haben einen Algorithmus entwickelt, der die Wirkung von Antidepressiva vorhersagen kann. Dafür analysiert das System die Gehirnaktivität der depressiven Patienten. Im Test lieferten bestimmte Muster in den Hirnwellen verlässliche Hinweise darauf, ob eine medikamentöse Behandlung anschlagen würde oder nicht. Solche Ansätze könnten in Zukunft dabei helfen, die Therapie besser auf den einzelnen Patienten abzustimmen.
Depressionen sind mehr als nur psychische Verstimmungen. Es sind Leiden, die durch messbare neurobiologische Veränderungen gekennzeichnet sind. So herrscht bei Betroffenen im Gehirn häufig ein Mangel an Neurotransmittern wie dem Botenstoff Serotonin. Antidepressiva können diesem Zustand entgegenwirken und den aus dem Lot geratenen Hirnstoffwechsel wieder ins Gleichgewicht bringen.
Doch die Mittel wirken längst nicht bei jedem Patienten: Rund die Hälfte der Betroffenen spricht bei der ersten Behandlung mit Antidepressiva nicht auf die Therapie an. Oft müssen verschiedene Mittel durchprobiert werden, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen – und selbst dann wirken bei einem Drittel die Medikamente nur unzureichend. Für sie müssen dann andere Behandlungsoptionen in Erwägung gezogen werden.
Prognose des Therapieerfolgs
„Oft bedarf es zahlreicher Schritte, bis ein Patient mit Depressionen überhaupt eine Besserung verspürt. Wäre es nicht besser, wenn man schon zu Beginn der Therapie wüsste, welche Behandlung für den Betroffenen die effektivste ist?“, konstatiert Madhukar Trivedi von der University of Texas in Dallas.
Genau dies könnte in Zukunft mithilfe künstlicher Intelligenz möglich werden, wie der Forscher und seine Kollegen um Erstautor Wei Wu von der Südchina Universität für Technologie in Guangzhou nun berichten: Sie haben einen Algorithmus entwickelt, der aus der Hirnaktivität depressiver Menschen die zu erwartende Wirkung einer Therapie mit Antidepressiva ablesen kann.
Hinweis in den Hirnwellen
Für ihre Studie nutzten die Wissenschaftler Daten einer Untersuchung mit 309 Depressionspatienten, die entweder den Wirkstoff Sertralin oder ein Placebo verabreicht bekommen hatten. Vor Therapiebeginn war zudem die Hirnaktivität der Probanden im Ruhezustand mittels Elektroenzephalografie (EEG) gemessen worden.
Mit diesen EEG-Messungen fütterten Wu und seine Kollegen ihren lernfähigen Algorithmus. Er sollte in den Hirnströmen nach Mustern suchen, die die Patienten, die positiv auf die Therapie ansprachen, von denen unterschied, denen die Behandlung nichts oder nur wenig brachte. Würde das SELSER getaufte KI-System gemeinsame Merkmale bei diesen Patienten entdecken?
Schlägt das Mittel an?
Tatsächlich identifizierte das KI-System eine Signatur in den EEG-Daten, die einen Rückschluss auf die Empfänglichkeit der Patienten für das Antidepressivum erlaubte. Dabei handelte es sich um bestimmte Merkmale der sogenannten Alphawellen – bei entspannter Wachheit auftretenden Hirnströmen mit der Frequenz von acht bis 13 Hertz.
Diese Ergebnisse konnten an weiteren unabhängigen Patientengruppen bestätigt werden und gelten wahrscheinlich nicht nur für das Mittel Sertralin, wie die Forscher berichten.
Weitere Untersuchungen legten zudem nahe: Betroffene, die laut Prognose kaum auf eine Therapie mit Antidepressiva reagieren, können womöglich verstärkt von anderen Behandlungsformen wie der transkraniellen Magnetstimulation in Kombinationen mit Psychotherapie profitieren.
„Wichtiger Fortschritt“
Wie Wu und seine Kollegen betonen, funktioniert die Vorhersage mit ihrem Algorithmus besser als andere gängige Modelle, die zum Beispiel die Schwere der Symptome oder demografische Faktoren für personalisierte Therapieentscheidungen zu Rate ziehen.
„Es sind dringend objektive Tests nötig, um bessere Behandlungen möglich zu machen. Unsere Ergebnisse sind spannend, weil sie einen wichtigen Fortschritt auf dem Weg zu diesem Ziel bedeuten und das Potenzial komplexer Datenanalyse-Methoden für die Psychiatrie hervorheben“, erklärt Mitautor Amit Etkin von der Stanford University.
Bald gängige Praxis?
Bestätigen weitere Untersuchungen den Nutzen des neuen Ansatzes, könnte er nach Ansicht der Wissenschaftler schon bald den Weg in die klinische Praxis finden. „Ich wäre überrascht, wenn Mediziner solche Prognosen nicht innerhalb der kommenden fünf Jahre nutzen würden“, so Etkins Fazit. (Nature Biotechnology, 2020; doi: 10.1038/s41587-019-0397-3)
Quelle: Nature Press/ Stanford Medicine/ National Institute of Mental Health/ UT Southwestern Medical Center