Netzwerk der Vielfalt: Anhand genetischer Daten haben Forscher den bislang umfangreichsten Stammbaum der Menschheit erstellt. Die Kartierung zeigt die Verwandtschaftsverhältnisse heute lebender Populationen und erlaubt Rückschlüsse auf gemeinsame Vorfahren. Zudem lassen sich anhand der Daten Schlüsselereignisse der menschlichen Evolutionsgeschichte nachvollziehen, darunter die von Afrika ausgehende Ausbreitung der Menschheit über die Welt. Veröffentlicht wurde die Studie in der Fachzeitschrift Science.
Unser Erbgut bestimmt nicht nur über unsere individuellen Merkmale, sondern erzählt auch die Geschichte unserer Abstammung und Herkunft. Inzwischen wurden nicht nur hunderttausende Genome heute lebender Menschen sequenziert, sondern auch die DNA von zahlreichen unserer prähistorischen Vorfahren analysiert. Die große Herausforderung bestand bislang darin, diese Daten miteinander in Zusammenhang zu bringen, um daraus Schlussfolgerungen ableiten zu können.
Daten kombiniert
Dieses Problems hat sich nun ein Team um Anthony Wohns vom Broad Institute des MIT und der Harvard University in Cambridge angenommen. Dazu entwickelten die Forscher einen Algorithmus, der in der Lage ist, Genomsequenzen aus vielen verschiedenen Quellen zu kombinieren und die riesigen Datenmengen gemeinsam zu analysieren.
„Wir haben im Grunde einen riesigen Stammbaum erstellt, eine Genealogie für die gesamte Menschheit, die so genau wie möglich die Geschichte modelliert, die all die genetische Variation hervorgebracht hat, die wir heute beim Menschen finden“, erklärt Koautor Yan Wong von der University of Oxford. „Anhand dieser Genealogie können wir sehen, wie die genetische Sequenz eines jeden Menschen mit allen anderen zusammenhängt, und zwar entlang aller Punkte des Genoms.“
Genetischer Stammbaum
Grundlegend basiert der Algorithmus auf einem simplen Konzept: Da einzelne Genomregionen nur von einem Elternteil, entweder der Mutter oder dem Vater, vererbt werden, kann man sich die Abstammung jedes Punktes im Genom wie einen Baum vorstellen. Die Gesamtheit der Bäume, die als „Baumsequenz“ oder „Ahnenrekombinationsdiagramm“ bezeichnet wird, verbindet die genetischen Regionen im Laufe der Zeit mit den Vorfahren, bei denen die genetische Variation zuerst auftrat.
„Im Wesentlichen rekonstruieren wir die Genome unserer Vorfahren und nutzen sie, um ein riesiges Beziehungsnetz zu bilden“ beschreibt Wohns. „Wir können dann abschätzen, wann und wo diese Vorfahren gelebt haben. Das Besondere an unserem Ansatz ist, dass er nur wenige Annahmen über die zugrundeliegenden Daten macht und sowohl moderne als auch alte DNA-Proben einbeziehen kann.“
Verwandtschaftsnetz bis in die Frühzeit des Menschen
Für ihre Studie nutzten die Forscher mehr als 3.500 individuelle Genomsequenzen aus 215 Populationen, erfasst in acht verschiedenen Datenbanken. Dazu zählten sowohl moderne als auch alte DNA-Proben aus allen Teilen der Welt. Die alten Proben waren teils bis über 100.000 Jahre alt und umfassten neben urzeitlichen Genomen des Homo sapiens unter anderem auch drei Neandertaler-Genome.
Neben hochwertigen, gut erhaltenen Erbgutsequenzen bezogen die Forscher auch solche ein, von denen aufgrund ihres Alters nur noch Fragmente erhalten waren. Diese halfen ihnen, den Zeitpunkt zu bestimmen, wann bestimmte Variationen im menschlichen Erbgut entstanden sind. Auf dieser Basis dieser Variationen erstellte der Algorithmus ein Netzwerk, das Aufschlüsse über Verwandtschaftsbeziehungen und gemeinsame Vorfahren der genomisch erfassten Individuen gibt.
Ausbreitung über die Welt
Zusätzlich ergänzten die Forscher, aus welcher Region der Welt die jeweiligen Beispielgenome stammten. Anhand dessen konnten sie zusätzlich abschätzen, wo die gemeinsamen Vorfahren gelebt hatten und wie sie sich in der Welt ausgebreitet haben. Ihre Daten spiegeln somit auch Schlüsselereignisse der menschlichen Evolutionsgeschichte: „Wir beobachten Signale für sehr tiefe Vorfahrenlinien in Afrika, das Out-of-Africa-Ereignis und die urzeitliche Besiedlung von Ozeanien“, schreiben sie.
In einem begleitenden Kommentar zur Studie, der ebenfalls im Fachmagazin „Science“ erschienen ist, schreiben Jasmin Rees und Aida Andrés vom University College London: „Die Leistungsfähigkeit und Auflösung der Methoden zur Aufzeichnung von Stammbäumen versprechen, zur Klärung der Evolutionsgeschichte des Menschen und anderer Spezies beizutragen. Es ist wahrscheinlich, dass die leistungsfähigsten Methoden für Rückschlüsse auf die Evolutionsgeschichte in Zukunft auf diesen Methoden beruhen werden.“ (Science, 2022, doi: 10.1126/science.abi8264)
Quelle: University of Oxford