Hilfe für Tatermittler: Wann ein Mordopfer starb, lässt sich künftig deutlich präziser bestimmen. Denn Forscher haben ein Modell entwickelt, das auf Basis eines thermodynamischen Körpermodells und wenigen Hautmessungen den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt anzeigt. Dabei berücksichtigt es den Einfluss des Körperbaus, der Umgebung und weiterer Faktoren. In ersten Tests waren die Ergebnisse bis auf rund 45 Minuten genau – beim jetzigen Standard gibt es oft mehrere Stunden Abweichung.
Moderne Technologien haben auch der Kriminaltechnik und Rechtsmedizin große Fortschritte beschert. Längst gehören DNA-Tests zum Repertoire der Ermittlung und auch Proteine und Mikroben liefern Hinweise zum Täter. Sogar das Alter von Fingerabdrücken kann man inzwischen ermitteln. Bei einer Mordermittlung aber ist vor allem ein Faktor zentral: Der Todeszeitpunkt des Opfers. Denn er hilft dabei, die Abläufe zu rekonstruieren und verrät auch, ob Tatverdächtige ein Alibi haben oder nicht.
Goldstandard mit großen Unsicherheiten
Jetzt haben Forscher um Leah Wilk von der Universität Amsterdam eine Methode entwickelt, mit der sich der Todeszeitpunkt präziser bestimmen lässt als bisher. Nach der gängigen Methode messen Rechtsmediziner die Rektaltemperatur der Toten und gleichen dies dem sogenannten Henssge-Modell ab. Dieses berücksichtigt Körpergewicht, Bedeckung und Oberflächenkontakt des Toten, um die Abkühlungsrate zu ermitteln.
Allerdings: Selbst dieser Goldstandard erlaubt nur eine grobe Eingrenzung des Todeszeitpunkts, wie Wilk und ihr Team erklären. Denn das Modell gilt nur für Standardbedingungen, so dass für besonders kalte oder warme Umgebungstemperaturen Korrekturfaktoren eingerechnet werden müssen. Nicht berücksichtigt sind zudem unterschiedliche Körperhaltungen und Staturen, beispielsweise besonders füllige oder dünne Menschen, obwohl dies einen erheblichen Einfluss auf das Auskühlen der Toten hat.
Thermodynamik des toten Körpers
Deshalb haben Wilk und ihre Team nun ein neues Modell entwickelt, das auf einer dreidimensionalen Repräsentation des Körpers und des Wärmeaustauschs mit seiner Umgebung beruht. „Körperlage, Figur sowie Umweltfaktoren wie die Beschaffenheit der Oberfläche, auf der der Körper liegt, die Kleiderbedeckung, das Eintauchen in Wasser und andere Parameter sind in unser Modell schon integriert“, erklären die Forscher.
Am Tatort müssen die Ermittler nur mit einem Sensor oder einer Wärmekamera die Temperatur an ein bis vier Hautstellen des Toten messen, außerdem Gewicht, Größe und Umgebungsfaktoren eingeben. Das neue Modell kalkuliert dann den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt beruhend auf thermodynamischen Gesetzmäßigkeiten. Weil statt der Rektaltemperatur die Hauttemperatur gemessen wird, besteht zudem nicht die Gefahr, dass mögliche Beweise durch das Einführen des Thermometers zerstört werden.
Im Schnitt nur 38 Minuten Abweichung
Wie gut dieses neue Modell funktioniert, haben die Forscher bereits praktisch getestet. Dafür wendeten sie ihre Methode auf vier Leichen an, deren Todeszeitpunkt genau bekannt war. Unter diesen toten „Probanden“ waren ein kräftiger, großer Mann, eine extrem zierliche Frau, ein Mann eher durchschnittlicher Statur und eine deutlich übergewichtige Frau. An allen Leichen nehmen die Forscher die Temperatur an der Stirn, der Brust, dem Bauch und dem Oberschenkel und gaben die entsprechenden Zusatzparameter ein.
Das Ergebnis: „Die mit diesem Verfahren rekonstruierten Zeiten wichen im Schnitt nicht mehr als 38 Minuten vom tatsächlichen Todeszeitpunkt ab“, berichten Wilk und ihr Team. „Im Vergleich zum Goldstandard mit drei bis sieben Stunden Unsicherheit ist dies eine deutliche Verbesserung.“ Nach Ansicht der Wissenschaftler könnte ihr computergestütztes Modell daher erhebliche Fortschritte für die Rechtsmedizin und Kriminalistik bringen.
3D-Scan von Toten ist in Arbeit
Doch es geht möglicherweise sogar noch genauer: „Wir arbeiten bereits an einer Methode, mit der man den Leichnam am Tatort in 3D aufzeichnen kann“, erklärt Wilks Kollege Maurice Aalders. Dadurch könne man dann auch die Haltung des Toten und deren Einfluss auf die Abkühlungsrate noch genauer erfassen. Die Forscher hoffen, dass ihre Modelle dazu beitragen, die Arbeit der Kriminalistik zu erleichtern. (Science Advances, 2020; doi: 10.1126/sciadv.aba4243)
Quelle: Universiteit van Amsterdam