Medizin

Früh eingeschult – anfälliger für ADHS?

Einschulungspolitik kann Diagnosehäufigkeit von ADHS im Kindesalter beeinflussen

Schulanfang: Der Stichtag entscheidet, wer die Ältesten und Jüngsten in einer Klasse sind. © iStock.com / Kzenon

Einschulung mit Folgen: Die jüngsten Kinder in einer Schulklasse erhalten häufiger eine Diagnose für die Aufmerksamkeitsschwäche ADHS als die ältesten. Am stärksten betroffen sind dabei Kinder, die erst nach der Einschulung sechs Jahre alt werden, wie eine Studie zeigt. Weil sie unreifer sind als ihre Klassenkameraden, wird ihr Verhalten – möglicherweise oft zu Unrecht – als krankhaft eingestuft. Forscher warnen daher vor voreiligen Diagnosen.

Am 12. August sind in Nordrhein-Westfalen die Sommerferien zu Ende. Dann werden im größten Bundesland auch Fünfjährige zum ersten Mal ihre Ranzen packen. Diese Kinder feiern ihren sechsten Geburtstag erst nach der Einschulung. Stichtag ist der 30. September, wer danach sechs Jahre alt ist, wird auch schon jetzt eingeschult. Auch in Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg und Niedersachsen beginnen in den nächsten Wochen Fünfjährige ihre Schulzeit.

Kritischer Stichtag

Liegen zwischen Geburtstag und Stichtag wie bei den Fünfjährigen Schulanfängern nur wenige Wochen, so kann dies gravierende Folgen haben: Kinder, die bei der Einschulung sehr jung sind, erhalten häufiger eine Diagnose für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Sie werden auch häufiger mit Medikamenten dagegen behandelt als Kinder, die bei der Einschulung beinahe ein Jahr älter sind als die Jüngsten.

Zu diesem Ergebnis kommen Wissenschaftler um Amelie Wuppermann von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für die Studie werteten sie bundesweite ärztliche Abrechnungs- und Arzneiverordnungsdaten von rund sieben Millionen Kindern und Jugendlichen zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011 aus.

Robuster Zusammenhang zwischen Diagnose und Alter

Der Unterschied fällt zwar auf den ersten Blick recht gering aus: Bei den jüngeren Kindern mit Geburtstag im Monat vor dem Stichtag erhielten im Schnitt 5,3 Prozent im Lauf der nächsten Jahre eine ADHS-Diagnose. Bei älteren Kindern, die im Monat nach dem Stichtag geboren wurden, sind es 4,3 Prozent. Doch angesichts der großen Menge ausgewerteter Daten ist dieser Unterschied signifikant: „Die Ergebnisse zeigen einen robusten Zusammenhang zwischen der ADHS-Diagnose- und Medikationshäufigkeit und der durch den Geburtsmonat bestimmten relativen Altersposition von Kindern in der Klasse“, fasst Erstautorin Wuppermann zusammen.

Über die Ursachen der häufigeren ADHS-Diagnose bei den Jüngsten in einer Klasse können die Forscher bislang nur spekulieren. Sie vermuten jedoch, dass das Verhalten jüngerer – und damit oft unreiferer – Kinder mit dem der älteren Kinder verglichen wird. Dann erscheinen Impulsivität, Hyperaktivität und Unaufmerksamkeit bei den jüngeren ausgeprägter. Die ADHS-Diagnose wird also wahrscheinlicher, weil das Verhalten im Vergleich zu dem der älteren Kinder möglicherweise als ADHS interpretiert wird.

Schlechte Unterrichtsbedingungen verstärken den Unterschied

Auffällig ist auch, dass der Zusammenhang zwischen Alter und ADHS stärker ausgeprägt ist, wenn die Unterrichtsbedingungen schlechter sind, etwa bei größeren Klassen. „Möglicherweise fällt bei schwierigeren Unterrichtsbedingungen die relative Unreife jüngerer Kinder in der Klasse stärker auf“, sagt Koautor Jörg Bätzing-Feigenbaum vom „Versorgungsatlas“, der die Studie veröffentlicht. Auch ein höherer Anteil ausländischer Schüler in der Klasse scheint Aufmerksamkeit zu kosten und die Bedingungen zu erschweren.

Ein höherer Bildungsgrad der Eltern verstärkt den Alterseffekt ebenfalls. Hier vermuten die Wissenschaftler, dass Eltern mit einem höheren Bildungsgrad mehr auf die Förderung ihrer Kinder achten und daher weniger bereit sind, Nachteile in Kauf zu nehmen, die durch die relative Unreife ihrer Kinder entstehen könnten.

Solche Faktoren könnten auch die Ursache für regionale Unterschiede auf Kreisebene sein, welche die Forscher gefunden haben. Abgesehen vom Alter entdeckten die Forscher noch weitere Faktoren, die zu einer häufigeren ADHS-Diagnose führen können. So diagnostizieren Ärzte die Aufmerksamkeitsschwäche generell häufiger bei Jungen als bei Mädchen.

Geänderte Einschulungspolitik gegen stigmatisierende Diagnose

Die Studie zeige, dass die traditionelle Einschulungspolitik mit der an gegebene Stichtage geknüpften Einschulung die Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern beeinflussen könne, fassen die Forscher zusammen: „Kinder, die quasi gleich alt sind, haben aufgrund der Einschulungspolitik ein unterschiedlich hohes Risiko, eine ADHS-Diagnose zu bekommen.“

Da eine solche Diagnose stigmatisierend sein kann und die medikamentöse Therapie von ADHS starke Nebenwirkungen haben kann, sollten sowohl Politiker als auch Ärzte vor der Diagnose diese neuen Ergebnisse berücksichtigen. Die Forscher empfehlen, in zukünftige Studien zu untersuchen, ob eine geänderte Einschulungspolitik, etwa mit einer flexiblen Schuleingangsphase, den Zusammenhang zwischen relativem Alter in der Klasse und ADHS abmildern kann.

Die Studie mit regionalen Ergebnissen und Übersichtsdiagrammen ist beim Versorgungsatlas abrufbar.

(Versorgungsatlas – ProScience Communications, 11.08.2015 – AKR)

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