Medizin

Gegen den chronischen Schmerz

Deaktivierung eines Enzyms stoppt Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz

Schmerz
Ein Enzym im Rückenmark spielt eine entscheide Rolle dafür, dass akute Schmerzen chronisch werden. © peterschreiber.media/ Getty images

Schmerzgedächtnis blockiert: Forscher haben einen entscheidenden Akteur für die Entstehung chronischer Schmerzen identifiziert. Blockiert man ein im Rückenmark produziertes Enzym rechtzeitig, kann akuter Schmerz nicht ins Schmerzgedächtnis übergehen – der chronische Schmerz bleibt aus, wie Tests mit Mäusen ergaben. Dieser Ansatz eröffnet damit die Chance, chronische Schmerzen zu verhindern, bevor sie entstehen, wie das Team im Fachmagazin „Science Advances“ berichtet.

Etwa 1,5 Millionen Menschen weltweit leiden unter chronischen Schmerzen. Bei ihnen hat sich der als Warnsignal wichtige akute Schmerz verselbstständigt und hält nun weiter an, obwohl die ursprüngliche Ursache behoben ist. Schon länger ist bekannt, dass der Grund dafür im sogenannten Schmerzgedächtnis liegt: Anhaltende Veränderungen im Zellstoffwechsel, der Signalleitung und der Aktivität von Nervenzellen im Rückenmark und Gehirn sorgen für eine Überempfindlichkeit, durch die eigentlich harmlose Reize Schmerzen auslösen.

Das Problem: Ist der chronische Schmerz einmal etabliert, lässt er sich nur schwer wieder beseitigen. Schmerzmittel helfen meist kaum und können das Schmerzgedächtnis in manchen Fällen sogar verfestigen. „Chronischer Schmerz bleibt daher beklagenswert unterbehandelt“, sagen Yannick Fotio von der University of California in Irvine und seine Kollegen. Einer der Gründe dafür ist ein zu geringes Wissen darüber, wie die Chronifizierung des Schmerzes auf molekularer Ebene abläuft.

Rückenmarks-Enzym als „Schuldiger“

Einen entscheidenden Akteur dieses Übergangs vom akuten zum chronischen Schmerz haben Fotio und sein Team nun aufgedeckt. Durch Experimente mit Mäusen fanden sie heraus, dass ein im Rückenmark produziertes Enzym dazu beiträgt, das normalerweise schnelle Abklingen akuter Schmerzen zu blockieren. Für ihre Studie fügten sie Mäusen durch einmaliges Auftragen von Formalin auf die Hinterpfote oder vorübergehendes Einengen des Ischiasnervs kurzzeitige akute Schmerzen zu.

Wie erwartet, klangen die akuten Schmerzen zwar nach wenigen Stunden ab. Doch bei 80 bis 100 Prozent der Mäuse blieben Schmerzen und eine Überempfindlichkeit zurück, die noch Monate anhielten. Nähere Analysen ergaben, dass diese Chronifizierung eng mit der Ausschüttung des Enzyms N-Acylethanolaminsäure-Amidase (NAAA) in den Rückenmarkszellen verknüpft ist: Das Enzym blockiert die Produktion eines Moleküls, das die Reaktion der Zellen auf Schmerzreize dämpft.

„Unsere Ergebnisse zeigen, dass akute Schmerzen an den Endorganen eine vorübergehende Erhöhung der NAAA-Ausschüttung im Rückenmark bewirken“, schreiben Fotio und sein Team. „Damit haben wir eine zuvor unerkannte Kontrollstelle beim Übergang vom akuten zum chronischen Schmerz identifiziert.“

Hemmstoff blockiert Chronifizierung

Doch dieser fatale Übergang lässt sich verhindern, wie weitere Versuche ergaben. Dafür verabreichten die Forschenden den Mäusen in den ersten drei Tagen nach Auslösung des akuten Schmerzes eine Chemikalie, die in früheren Studien als Hemmstoff für das NAAA-Enzym erwiesen hatte. Zum Vergleich erhielten weitere Mäusegruppen eine Kochsalzlösung oder eines von vier gängigen Schmerzmitteln, darunter auch Morphin und Ketamin.

Das Ergebnis: „Die Behandlung mit dem NAAA-Blocker verhinderte effektiv alle Manifestationen des chronischen Schmerzes“, berichten die Wissenschaftler. Anders als in den Kontrollgruppen entwickelten die Tiere nach Abklingen des Akutschmerzes weder Überempfindlichkeit noch anhaltende Schmerzen. Das Mittel wirkte zudem unabhängig davon, wie stark die anfängliche Schmerzreaktion ausfiel.

Kurzes Zeitfenster

Allerdings ist das Timing dabei entscheidend: Der NAAA-Hemmstoff wirkte nur dann, wenn er bis zum vierten Tag nach Einsetzen des akuten Schmerzes verabreicht wurde. Bekamen die Mäuse das Mittel erst nach fünf oder sechs Tagen, blieb die Wirkung aus und der chronische Schmerz setzte ein. Es gibt demnach ein bestimmtes Zeitfenster, in der die Chronifizierung der Schmerzreaktion stattfindet und geblockt werden kann, wie das Team erklärt.

Wie ergänzende Analysen ergaben, wird das NAAA-Enzym nach einem Akutschmerz nur vorübergehend ausgeschüttet. „Diese Reaktion beginnt 24 bis 48 Stunden nach der Verletzung und dauert rund 72 Stunden“, berichten Fotio und seine Kollegen. Wird sie in dieser Zeit blockiert, beugt dies der Umprogrammierung des neuronalen Zellstoffwechsels und damit den chronischen Schmerzen vor.

Neue Chance zur Vorbeugung chronischer Schmerzen

Nach Ansicht des Forschungsteam bieten diese Erkenntnisse neue Ansätze, um die Entstehung chronischer Schmerzen zu verhindern. So könnte man NAAA-Hemmstoffe beispielsweise einsetzen, um nach Unfällen oder schmerzhaften Operationen die Bildung eines Schmerzgedächtnisses zu verhindern. Bei Amputationen könnte eine solche Therapie verhindern, dass Patienten Phantomschmerzen entwickeln.

Parallel dazu könnte die Identifizierung des NAAA-Enzyms als entscheidendem Akteur für den Übergang von akuten zu chronischen Schmerzen auch die Frage klären, warum einige Menschen anfälliger für die Chronifizierung sind als andere. Möglicherweise, so die Spekulation der Wissenschaftler, wird die Ausschüttung von NAAA bei ihnen durch spezielle genetische oder gesundheitliche Faktoren begünstigt. Diese zu entschlüsseln, könnte dann weitere Ansätze gegen chronische Schmerzen bieten. (Science Advances, 2021; doi: 10.1126/sciadv.abi8834)

Quelle: University of California – Irvine

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