Evolution in Aktion: Immer mehr Menschen besitzen drei statt zwei Unterarm-Arterien. Denn die normalerweise im Mutterleib rückgebildete Median-Arterie bleibt bei ihnen erhalten. Der Anteil der Menschen mit dieser dritten Ader ist seit Ende des 19. Jahrhunderts von zehn auf 30 Prozent gestiegen, wie eine Studie enthüllt. Die Forscher sehen dies als Symptom einer anhaltenden Evolution des Menschen – in 100 Jahren könnten fast alle diese Arterie besitzen.
Die Evolution hört nicht auf – auch bei uns Menschen nicht. Ständig passen auch wir uns an unsere Umwelt an: Unsere Lebenserwartung und Körpergröße sind dank besserer Ernährung und Medizin gestiegen und auch die durchschnittliche Intelligenz hat in den letzten 100 Jahren zugenommen – zumindest was den gemessenen IQ-Wert angeht. Auch der Stoffwechsel hat sich angepasst: Unsere Vorfahren entwickelten das Enzym Laktase, um Milch und Milchprodukte besser verdauen zu können.
Noch im Mutterleib zurückgebildet – normalerweise
Doch das ist nicht alles: Wie sich nun zeigt, gibt es auch in unserer Anatomie schleichende evolutionäre Veränderungen. Eine davon betrifft die Median-Arterie, wie nun Teghan Lucas von der australischen Flinders University und ihre Kollegen herausgefunden haben. Diese Ader im Unterarm wird im frühen menschlichen Embryo gebildet, verschwindet aber wieder, sobald die Ellen- und Speichenarterie entstanden sind.
„Die Median-Arterie galt als rein embryonale Struktur, die normalerweise etwa in der achten Schwangerschaftswoche wieder rückgebildet wird“, erklären Lucas und ihre Kollegen. Nur in seltenen Fällen bleibt diese Rückbildung aus und die dritte Unterarm-Arterie bleibt auch nach Geburt erhalten. Schon seit dem 18. Jahrhundert gibt es jedoch Anzeichen dafür, dass die Zahl der Menschen mit Median-Arterie wächst. Um 1880 berichteten Anatomen bereits von einem Anteil von rund zehn Prozent.
Schon ein Drittel der Menschen hat die dritte Arterie
Um herauszufinden, wie viele Menschen heute diese dritte Arm-Arterie besitzen, haben Lucas und ihr Team die Unterarme von 78 Menschen untersucht, die 2015 und 2016 im Alter zwischen 51 und 101 Jahren gestorben waren. „Zusätzlich haben wir alle Daten analysiert, die dazu in der anatomischen Fachliteratur erschienen sind“, berichten die Forscher.
Das Ergebnis: 26 der 78 untersuchten Toten besaßen eine dritte Armarterie, das entspricht rund 33 Prozent. Ähnliche Werte ergab auch die Auswertung der Fachliteratur. „Gegenüber den zehn Prozent um 1880 sind die 30 Prozent eine ziemlich deutliche Zunahme in relativ kurzer Zeit“, sagt Lucas. Evolutionsbiologisch betrachtet sei dies eine sehr schnelle Entwicklung.
Von der Ausnahme zur anatomischen Regel
„Wenn dieser Trend anhält, dann könnten bis 2100 fast alle Menschen diese Median-Arterie im Unterarm besitzen“, sagt die Forscherin. Für Menschen, die in 80 Jahren geboren werden, wäre diese Ader dann die Regel. Innerhalb weniger Jahrzehnte könnte die Median-Arterie damit von der Ausnahme zur anatomischen Normalität geworden sein – die medizinischen Lehrbücher müssten dann umgeschrieben werden.
Doch was ist der Grund für diese Entwicklung? „Diese Zunahme könnte auf Mutationen in den Genen zurückgehen, die die Entwicklung der Median-Arterie steuern“, mutmaßen die Wissenschaftler. „Aber auch Gesundheitsprobleme der Mutter in der Schwangerschaft oder beides könnten dazu führen, dass diese Arterie nicht rückgebildet wird.“
„Mikroevolution des modernen Menschen“
Nach Ansicht der Forschenden deutet der Trend zur dritten Arterie darauf hin, dass ihre Präsenz einen Selektionsvorteil bedeutet. Denn neue Merkmale setzen sich in der Evolution normalerweise dann durch, wenn sie ihren Trägern Vorteile verleihen. Tatsächlich verbessert die dritte Arterie die Durchblutung des Arms, wie Lucas und sein Team erklären. Andererseits aber erhöht sie das Risiko für ein Karpaltunnelsyndrom.
In jedem Fall demonstriert dieses Blutgefäß, dass die Evolution auch bei uns Menschen nicht aufgehört hat – die Forscher nennen dieses Phänomen die Mikroevolution des modernen Menschen. „Die Median-Arterie ist ein perfektes Beispiel dafür, dass wir uns noch immer weiterentwickeln“, sagt Koautor Maciej Henneberg von der Universität Zürich. Weitere Beispiele sind die Fabella, ein kleiner Knochen auf der Knierückseite, der ebenfalls immer häufiger wird, und die zunehmende Rückbildung der Weisheitszähne.
(Journal of Anatomy, 2020; doi: 10.1111/joa.13224)
Quelle: Flinders University