Zu enge Familienbande: Forscher haben erstmals geklärt, warum viele Angehörige der Habsburger-Dynastie auffallend vorstehende Unterkiefer und Unterlippen besaßen – die Inzucht war schuld. Denn der Studie zufolge gehen diese Gesichtsmerkmale nicht auf dominante Genvarianten zurück, sondern wahrscheinlich auf rezessive Gene, die nur dann in Erscheinung traten, wenn beide Eltern diese Anlagen trugen und vererbten. Genau dies kommt bei Inzucht überproportional häufig vor, wie die Forscher erklären.
Die Habsburger waren 500 Jahre lang eine der mächtigsten Herrscherdynastien Europas – sie regierten über Spanien, Portugal, Österreich und Ungarn und stellten auch einige römische Kaiser deutscher Nation. Typisch für diesen Familien-Clan war aber nicht nur seine Macht, sondern auch ein typisches Aussehen: In den Gesichtern der meisten Habsburger standen Unterlippe und Unterkiefer auffallend vor, die Spitze der prominenten Hakennase hing leicht herab.
Inzucht oder nur ein dominantes Gen?
Aber warum? Klar scheint, dass die „Habsburger Lippe“ auf eine erbliche Veranlagung zurückgeht. Es muss ein oder mehrere Genvarianten geben, die den Habsburgern diese Kombination aus schwach ausgeprägtem Oberkiefer und vorstehendem Unterkiefer verliehen. Strittig ist aber, ob dies nur ein dominant vererbtes Familienmerkmal ist, oder ob Inzucht durch die vielen Verwandtenehen unter den Habsburgern die Weitergabe dieser Gesichtsmerkmale förderte.
Die Inzucht wäre dann der ausschlaggebende Faktor, wenn die „Habsburger Lippe“ auf rezessive Gene zurückgeht. Denn dann entwickelt sich das Merkmal nur dann, wenn ein Kind von beiden Elternteilen die auslösende Genvariante erbt. Doch ob die typische Gesichtsform der Habsburger auf dominante oder rezessive Gene zurückgeht, war ungeklärt.
Spurensuche in Porträts und Stammbaum
Doch jetzt könnten Forscher um Roman Vilas von der Universität von Santiago de Compostela eine Antwort auf diese Frage gefunden haben. Sie haben untersucht, für welche Form der Vererbung die Verwandtschaftsbeziehungen und das Aussehen der Habsburger sprechen. Dafür ermittelten die Forscher zunächst für 15 Männer und Frauen aus dem Habsburger-Clan, bei wem die typischen Gesichtsmerkmale am stärksten ausgeprägt waren.
Dafür baten die Wissenschaftler zehn erfahrene Gesichtschirurgen, 66 Porträts dieser Personen nach 18 anatomischen Kriterien einzustufen. Anschließend setzten sie diese Einstufung in Bezug zum Familienstammbaum der Habsburger. Auf Basis von mehr als 6000 Habsburgern aus 20 Generationen ermittelten sie, wie Verwandtschaftsgrad, Inzucht und Ausmaß der Habsburger Lippe verknüpft waren.
Klarer Zusammenhang mit der Inzucht
Das Ergebnis: Es zeigte sich ein statistisch signifikanter Zusammenhang zwischen den habsburgischen Gesichtszügen und dem Grad der Inzucht ihrer Träger. Demnach war die „Habsburger Lippe“ bei den Familienmitgliedern besonders stark ausgeprägt, in deren Linie es viele enge Verwandtenehen gab. „Wir haben damit zum ersten Mal belegt, dass es eine klare positive Verknüpfung zwischen der Inzucht und der Habsburger Kippe gibt“, sagt Vilas.
Zu den Habsburgern mit der stärksten Ausprägung des „Familiengesichts“ gehörten der 1519 gestorbene Kaiser Maximilian I., seine Tochter Margarete von Österreich, sein Neffe Karl I. von Spanien, sein Urenkel Philip I. von Spanien und der 1700 gestorbene spanische König Karl II. Über gut 200 Jahre hinweg blieb diese typische Gesichtsform in überdeutlicher Form erhalten – dank der Inzucht.
Genbasis höchstwahrscheinlich rezessiv
Dies liefert auch erste Hinweise auf die genetische Basis der „Habsburger Lippe“. Nach Ansicht von Vilas und seinem Team ist eine rezessive Vererbung die wahrscheinlichste Erklärung für die Weitergabe der Habsburger Gesichtsmerkmale. Durch die Inzucht kam es überproportional häufig dazu, dass Nachkommen diese Gene von beiden Elternteilen erbten und damit auch die typische Gesichtsform.
Allerdings betonen die Forscher auch, dass die Daten bisher nicht ausreichen, um andere durch Inzucht verursachte Anreicherungseffekte auszuschließen. Dafür seien weitere Studien nötig, so Vilas und seine Kollegen. (Annals of Human Biology, 2019; doi: 10.1080/03014460.2019.1687752)
Quelle: Taylor & Francis Group