Risiko und Chance zugleich: Die überzähligen Chromosomen vieler Krebszellen machen Tumore zwar aggressiver, lassen sich aber auch zur Krebsbekämpfung nutzen, wie nun eine Studie enthüllt. Einerseits vervielfachen die Chromosomenkopien viele Krebsgene, die das Tumorwachstum ankurbeln. Gleichzeitig liefern sie jedoch Ansatzstellen für neue Krebstherapien. Denn die zusätzlichen Chromosomen tragen auch Gene, die die Krebszellen anfälliger für bestimmte Wirkstoffe machen, so die Forschenden in „Science“.
Wenn Zellen entarten, ist dies meist schon an ihren Chromosomen ablesbar. Denn durch fehlerhafte Zellteilungen erhalten Krebszellen oft mehr als die normale Chromosomenzahl. Die von dieser Aneuploidie betroffenen Tumorzellen tragen dann eine oder mehrere Kopien von Chromosomen in sich. Einige Riesen-Krebszellen können sogar den acht- bis 16-fachen Chromosomensatz in sich tragen. Doch ob dieser Erbgutüberschuss bloß eine Folge der Zellentartung ist oder vielleicht sogar ein Krebstreiber, war bisher strittig.
„Hohe Anteile von Aneuploidie in einem Krebstumor sind meist mit schlechteren Prognosen für die betroffenen Patienten verbunden“, erklären Vishruth Girish von der Yale University und seine Kollegen. „Aber ob diese veränderte Zahl der Chromosomenkopien das Tumorwachstum aktiv vorantreibt oder ob die Aneuploidie einfach allgemein ein Risikofaktor ist, war weniger klar.“
Zusatz-Chromosomen machen Krebstumore aggressiver
Um diese Frage zu klären, untersuchte das Team zunächst bei mehr als 23.500 Krebspatienten, ob überzählige Kopien bestimmter Chromosomen oder Chromosomenteile häufiger als andere mit aggressivem Krebswachstum und einem ungünstigen Ausgang verbunden sind. Dies bestätigte sich: Liegen einige DNA-Abschnitte in mehr Kopien vor als normal, darunter auch der sogenannte q-Arm des ersten Chromosoms, fördert dies bei vielen Krebsarten das Tumorwachstum.
Dies bestätigte sich in Tests mit Zellkulturen verschiedener Krebsarten: Mithilfe eines auf der Genschere CRISPR basierenden Verfahrens entfernten die Forschenden die dritte, überschüssige Kopie des 1q-Chromosomenarms aus diesen Zellen und beobachteten das resultierende Tumorwachstum. Das Ergebnis: Die Zellen mit der wieder normalisierten Kopienzahl produzierten kleinere, teilweise sogar gar keine Tumore mehr.
Aneuploidie als Treiber der Entartung?
„Wir entdeckten zudem, dass die zusätzlichen Kopien des 1q-Arms oft die erste Chromosomenzahl-Anomalie ist, die Brustkrebszellen entwickeln“, berichten Girish und sein Team. „Deswegen vermuteten wir, dass diese Aneuploidie des ersten Chromosoms nicht nur für das Krebswachstum nötig ist, sondern vielleicht sogar aktiv die Entartung von Zellen fördert.“ Auch dies bestätigte sich in einem Experiment mit genetisch „zurechtgestutzten“ Zellen.
Interessant auch: Krebstumore sorgen offenbar selbst dafür, ihre 1q-Aneuploidie möglichst zu erhalten und wiederzuerlangen. Als die Wissenschaftler Kulturen der ihrer dritten Chromosomenkopie beraubten Krebszellen weiterwachsen ließen, nahm die Zahl der Zellen mit 1q-Aneuploidie mit der Zeit wieder zu, bis diese wieder die Mehrheit stellten.
Aktivität von Krebsgenen verstärkt
Doch warum sind die Chromosomenkopien für die Krebszellen so wichtig? Eine Antwort lieferten Analysen der Genexpression: Auf dem bei den Krebszellen dreifach vorliegenden Chromosomenarm liegen mehrere krebsfördernde Gene, darunter MDM4, wie Girish und sein Team feststellten. Weil diese Onkogene durch die Aneuploidie mehrfach vorhanden sind, werden sie auch stärker abgelesen und treiben dadurch die Entartung der Zelle voran.
Gleichzeitig unterdrückt die vermehrte Aktivität der Onkogene auch die Wirkung zelleigener Gegenmaßnahmen, beispielsweise durch das als Tumorsuppressor wirkende Protein p53. Die Forschenden vermuten, dass dieser Mechanismus auch bei anderen krebstypischen Aneuploidien und den auf den kopierten Chromosomen liegenden Genen zum Tragen kommt – und so Entartung und Tumorwachstum fördert.
Kopierte Gene als Achillesferse
Das Spannende jedoch: Die Abhängigkeit der Krebszellen von ihren zusätzlichen Chromosomenkopien eröffnet auch neue Ansatzpunkte für die Krebstherapie. Denn mit den DNA-Kopien werden auch Gene kopiert und überaktiv, die die Krebszellen anfälliger für bestmimte Wirkstoffe machen können, wie die Forschenden erklären. Wen dadurch beispielsweise mehr Membranpumpen oder Enzyme produziert werden, kann dies die Wirkung von Chemotherapeutika verstärken.
Dies bestätigte sich bei den 1q-aneuploiden Zellen. Sie zeigen eine Überproduktion des Enzyms UCK2, wie Girish und sein Team herausfanden. In ihren Versuchen regierten diese Tumorzellen dadurch empfindlicher auf zwei experimentelle Chemotherapeutika: In normalen Krebszellkulturen mit anfangs 20 Prozent aneuploiden Zellen vermehrten sich diese rasant und machten nach neun Tagen 75 Prozent der Zellkultur aus. Gaben die Forschenden jedoch die beiden experimentellen Hemmstoffe dazu, sank der Anteil aneuploider Krebszellen in der Kultur auf nur noch vier Prozent.
Ansatzpunkt für neue Krebstherapien
„Das zeigt uns, dass die Aneuploidie einen möglichen Ansatzpunkt für Krebstherapien bieten kann“, sagt Seniorautor Jason Sheltzer von der Yale University. „Wenn wir selektiv Zellen mit überzähligen Chromosomen angreifen können, dann könnten wir so Krebs bekämpfen, ohne dem normalen, nicht entarteten Gewebe stärker zu schaden.“
Bis aus diesen Erkenntnissen allerdings anwendbare Krebstherapien werden, wird es noch dauern. Das Forschungsteam plant nun als nächstes, weitere Wirkstoffe an aneuploiden Krebszellen zu testen und Tierversuche durchzuführen. Erst wenn diese sich als erfolgreich und sicher erweisen, wären dann erste klinische Studien mit Menschen möglich. (Science, 2023; doi: 10.1126/science.adg4521)
Quelle: Yale University