Korrigiertes Sozialverhalten: Ein für die Behandlung von Krebs bewährtes Medikament wirkt womöglich auch bei Autismus. Zumindest im Tierversuch verschwanden durch die Gabe des Mittels die für die Entwicklungsstörung typischen Auffälligkeiten im Sozialverhalten, wie Forscher berichten. Demnach korrigiert der Wirkstoff Expressionsfehler in zahlreichen mit Autismus verknüpften Genen – und hat dadurch einen durchschlagenden Effekt.
Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die mit vielfältigen Symptomen einhergeht. Zentrales Merkmal der Erkrankung sind jedoch Auffälligkeiten im Sozialverhalten: Menschen mit Autismus sind häufig nicht besonders an engen Beziehungen interessiert oder haben Schwierigkeiten, diese zu gestalten. So fällt es vielen Betroffenen beispielsweise schwer, mit anderen Personen zu sprechen und Gesagtes richtig zu interpretieren. Auch Mimik und Gestik zu verstehen, gelingt ihnen oft nicht. Manche Autisten haben zudem Probleme damit, andere Menschen überhaupt zu erkennen.
Überschneidung von Risikogenen
Die Ursache für diese sozialen Defizite scheint auch in den Genen zu liegen. Studien legen nahe, dass dabei vor allem epigenetische Veränderungen eine Rolle spielen – Modifikationen, die beeinflussen, wie DNA-Abschnitte abgelesen werden. Erstaunlicherweise sind diese Veränderungen oft gleichzeitig mit einem erhöhten Risiko für Krebs verbunden.
„Bei der großen Überschneidung von Risikogenen liegt es quasi auf der Hand, ein epigenetisch wirksames Krebsmedikament für die Therapie von Autismus zweckzuentfremden“, konstatiert Zhen Yan von der State University of New York in Buffalo. Aus diesem Grund hat das Team um Seniorautor Yan nun ein solches Krebsmittel an autistischen Mäusen getestet – mit erstaunlichen Resultaten.
Soziale Auffälligkeiten verschwinden
Für ihre Studie untersuchten die Wissenschaftler Nager mit Fehlern in einem Gen namens Shank 3. Mutationen in diesem Erbgutabschnitt sind ein wichtiger Risikofaktor für eine autistische Störung mit den typischen Auffälligkeiten im Sozialverhalten, denn Shank 3 kontrolliert bei Mäusen wie Menschen kognitive und emotionale Prozesse. Wie würde sich die Gabe des Krebsmedikaments Romidepsin auf das Verhalten der sozial auffälligen Nager auswirken?
Das Ergebnis: Schon eine dreitägige Therapie mit geringen Dosen des Medikaments führte zu einem unglaublichen Erfolg, wie die Forscher berichten. Die sozialen Defizite verschwanden nahezu völlig und zwar für ganze drei Wochen. Diese Zeitspanne reicht im Mäuseleben von der Kindheit bis ins späte Jugendalter hinein, eine wichtige Phase für die Entwicklung sozialer und kommunikativer Fähigkeiten.
Korrigierte Genexpression
„Das kleine Molekül übt einen tiefgreifenden und nachhaltigen Einfluss auf Autismus-typische Defizite aus, ohne sichtbare Nebenwirkungen zu entfalten“, konstatiert Yan. Wie aber kommt es zu diesem Effekt? Wie die Wissenschaftler erklären, hemmt Romidepsin die Aktivität von Enzymen, die sogenannte Histone chemisch verändern. Histone organisieren unter anderem, wie genetisches Material im Zellkern verpackt wird und beeinflussen damit auch die Genexpression.
Ein Beispiel für ein solches veränderndes Enzym ist die Histon-Deacetylase 2 (HDAC2). Sie war bei den Mäusen im Versuch übermäßig aktiv. Als Folge war die DNA im Chromatin-Komplex viel zu dicht gepackt – so dicht, dass die Transkription des Genmaterials nicht ungehindert stattfinden konnte. „Bestimmte Gene werden dadurch nicht richtig exprimiert und das führt schließlich zu Verhaltensänderungen“, sagt Yan.
Auch beim Menschen wirksam?
Das Romidepsin kann die Aktivität von HDAC2 wieder herunterregeln, sodass die Gene normal abgelesen werden können: „Das Mittel lockert die dicht gepackte Chromatin-Struktur auf, sodass die Transkriptionsmaschinerie Zugriff auf die entscheidenden Bereiche der Gene hat“, berichtet Yan.
Dabei scheint das Medikament nicht nur die Genexpression in einem DNA-Abschnitt korrigieren zu können, wie weitere Experimente zeigten. Es repariert einen Großteil von mehr als 200 fehlerhaften Genen, die als typisch für autistische Störungen gelten. Dass nur eine Substanz einen so weit greifenden Effekt hat, macht das Mittel den Forschern zufolge besonders interessant. Weitere Studien sollen nun zeigen, ob Romidepsin oder ähnlich wirkende Medikamente auch beim Menschen wirksam sind. (Nature Neuroscience, 2018; doi: 10.1038/s41593-018-0110-8)
(University at Buffalo, 13.03.2018 – DAL)