In Deutschland gibt es gravierende Impflücken für die Masern: Nur 37 Prozent aller Kleinkinder werden rechtzeitig und zweifach gegen die Masern geimpft. Das zeigt eine Studie von Forscherinnen des Versorgungsatlas. Sie dokumentiert viel zu niedrige Impfraten in vielen Regionen. Bayern, Baden-Württemberg, Berlin und Bremen sind dabei die Schlusslichter, aber auch einzelne Kreise weichen stark vom Durschnitt ab. Für einen populationsweiten Schutz wäre eine Impfrate von 95 Prozent nötig.
Nicht zuletzt die aktuellen Masern-Ausbrüche in Deutschland zeigen, dass die Impfquoten hierzulande immer noch zu niedrig sind und der Impfschutz in vielen Regionen sehr löchrig ist. Zwar konnte in den letzten Jahren im Rahmen der Schuleingangsuntersuchungen ein kontinuierlicher Anstieg der Impfquoten beobachtet werden. Doch es fehlten bislang Daten über die Impfquoten der besonders gefährdeten Kleinkinder, die den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission zufolge vor Vollendung des zweiten Lebensjahres zweimal geimpft werden sollten.
Gut 80 Prozent des Geburtsjahrgangs 2008 erfasst
„Impflücken bei Kleinkindern können beispielsweise in Kindertagesstätten fatale Folgen haben, wenn die Infektion bei einem lokalen Masernausbruch eingeschleppt wird“, sagt Sandra Mangiapane, die Leiterin des Versorgungsatlas. Die aktuelle Untersuchung schließt nun die Wissenslücken über Impflücken. Die Wissenschaftlerinnen werteten dafür die pseudonymisierten Abrechnungsdaten aus Arztpraxen von insgesamt 550.125 Kindern aus, die im Jahr 2008 geboren wurden und in den Jahren 2008 oder 2009 eine Früherkennungsuntersuchung U4 hatten. Das sind 81 Prozent des Geburtsjahrgangs 2008.
„Unsere Studie zeigt erstmals, in welchen Regionen Deutschlands der Impfschutz gegen Masern entweder nicht ernst genug genommen wird, oder verunsicherte Eltern aufgrund fehlender oder falscher Informationen über Nutzen und Risiken der Impfung sich gegen die Immunisierung entscheiden oder diese hinausschieben“, erklärt Studienautorin Maike Schulz.
95 Prozent Impfquote erreicht keine Region
Wäre Zweibrücken überall, könnte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit Deutschland zufrieden sein: In der kreisfreien Stadt im Südwesten von Rheinland-Pfalz erhalten 94,8 Prozent der Kleinkinder vor ihrem zweiten Geburtstag die erste Masern-Impfung und über drei Viertel der Kinder die nicht minder wichtige Zweitimpfung. Die 33.000-Einwohner-Stadt erreicht damit zumindest bei der ersten Impfung knapp jene 95-Prozent- Ziel-Quote der WHO, die nötig ist, um die Masern bis zum Jahr 2015 europaweit auszurotten. Nur zwei weitere Landkreise in Deutschland können bei der Erstimpfung mit Quoten knapp unter 95 Prozent aufwarten: Müritz in Mecklenburg Vorpommern und Remscheid in Nordrhein-Westfalen. Bei der Zweitimpfung fehlen solche Traum-Quoten jedoch in ganz Deutschland.
Am anderen Ende der Quoten-Skalen drängeln sich hingegen vergleichsweise viele Städte und Landkreise: Bundesweite Schlusslichter sind die Landkreise Rosenheim, Garmisch-Partenkirchen und Bad Tölz in Bayern. Dort erhalten nur 61,3 bis 65,6 Prozent der Kinder die erste und nur maximal 39,5 Prozent die zweite Impfung. Insgesamt ist der Freistaat Schlusslicht auf Länderebene. Daran können auch respektable Werte in etlichen Landkreisen nichts ändern, beispielsweise die überdurchschnittlichen Quoten der kreisfreien Stadt Hof, in der immerhin 93,9 Prozent der Kleinkinder die erste und noch 67,7 Prozent die Zweitimpfung vor Vollendung des zweiten Lebensjahres erhalten.
Gebildete Mütter sind besonders verunsichert
Die Versorgungsatlas-Studie bestätigt darüber hinaus andere Untersuchungen, denen zufolge die Impfmüdigkeit oder gar Impfskepsis bei Familien mit einem hohen sozioökonomischen Status besonders ausgeprägt ist. Insbesondere spielt die formale Bildung der Mütter eine Rolle: Die Impfwahrscheinlichkeit sinkt bundesweit mit steigender Quote hoch qualifizierter Mütter. „Diese Faktoren können die Unterschiede jedoch nur teilweise erklären“, sagt Dr. Mangiapane. „Auch der Einfluss regional unterschiedlich stark vertretener impfkritischer Ärzte, Heilpraktiker und Homöopathen wirkt sich vermutlich aus.“
Fehlende Informationen über die Bedeutung der zweiten Impfung scheinen für deren niedrige Quoten mitverantwortlich zu sein, vermuten die Wissenschaftlerinnen. „Diese Impfung ist keine „Auffrischungsimpfung“, sondern sorgt dafür, dass jene drei bis fünf Prozent der Kinder, bei denen die erste Impfung nicht anschlägt, nach dieser zweiten Impfung dann doch noch eine Immunität aufbauen kann“, erklärt Maike Schulz. „Bezogen auf die Studienpopulation bedeutet dies, dass zwischen 14.000 und 23.000 Kinder, die eine Erstimpfung bekommen haben, bis zur Zweitimpfung nicht geschützt sind, obwohl die Eltern das denken.“
Vor Einführung der Impfung in den 1970er Jahren waren die Masern eine weit verbreitete Kinderkrankheit, die jedoch keineswegs harmlos ist. Es sterben bis zu drei von 1000 Kindern. Insbesondere Kinder unter fünf Jahren und Erwachsene über 20 Jahren sind bei einer Infektion von Komplikationen betroffen. Gefürchtet ist vor allem die Gehirnentzündung (ein Fall auf 1.000 – 5.000 Erkrankte) mit einer Sterblichkeit von 20 – 30 Prozent und einer Heilungsquote mit Folgeschäden von über 30 Prozent. Die subakute sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) ist eine tükische tödliche Spätfolge einer Maserninfektion, die bei etwa einem von 10.000 Fällen auftritt. Sie betrifft in den meisten Fällen Kinder oder Jugendliche, die vor ihrem zweiten Lebensjahr die Masern durchgemacht haben.