Eine wichtige Strategie in der Pharmaforschung ist es, bekannte Wirkstoffe chemisch zu variieren. Oft lassen sich so Medikamente finden, die wirksamer oder spezifischer sind als die Ausgangssubstanz. Doch eine neue Studie hat nun gezeigt, dass es sich bei der Entwicklung von Arzneien lohnen kann, „ausgetretene Forschungspfade“ zu verlassen. Denn oft gibt es mehrere wirksame Schlüsselsubstanzen, die einander völlig unähnlich sein können, wie die Forscher in der Zeitschrift Chemistry & Biology berichten.
{1l}
Viele Arzneien entfalten ihre Wirkung, indem sie an spezifische Zelleiweiße binden. So docken manche HIV-Medikamente an bestimmte Proteinstrukturen auf den Immunzellen an. Sie blockieren dadurch gewissermaßen die Eintrittspforten, durch die das AIDS-Virus in die Zellen eindringt. Je stärker sich der Wirkstoff an der Oberfläche der Immunzellen „festkrallen“ kann, desto besser funktioniert diese Blockade.
Idealerweise verhält sich das Medikament zu der Struktur, an der es andockt, wie ein Handschuh zur Hand: Je besser Wirkstoff und Andockpunkt in Form und Aufbau zueinander passen, desto fester die Verbindung. Wenn Pharmaunternehmen ein Medikament verbessern möchten, variieren sie daher zunächst meist gezielt seinen Aufbau: Sie versuchen gewissermaßen, den Handschuh auf Maß zu schneidern. Auch die Suche nach bereits bekannten Substanzen ähnlicher Struktur verspricht häufig Erfolg.
Hin und wieder haben die Pharmaforscher jedoch Pech: „Manchmal büßt eine Substanz durch eine minimale Änderung ihre Wirksamkeit fast völlig ein“, erklärt der Bonner Bioinformatiker Professor Dr. Jürgen Bajorath. Vielleicht ist der Handschuh plötzlich zu eng und will partout nicht mehr passen. Umgekehrt kann ein Wirkstoff ganz anders aussehen, aber ebenso aktiv oder sogar aktiver sein wie die Ausgangssubstanz. „Das ist ein Rätsel, das Wirkstoffforscher bislang nur teilweise verstehen.“
Nicht so wählerisch wie angenommen
Zusammen mit seiner Mitarbeiterin Lisa Peltason hat der Wissenschaftler vom Bonn-Aachen Center for Information Technology (B-IT) dieses merkwürdige Verhalten genauer unter die Lupe genommen. Dazu haben sich die Forscher vier lange bekannte Enzyme vorgeknöpft – das sind Eiweiße, die im Körper bestimmte Reaktionen katalysieren. Für jedes dieser Enzyme kennt man inzwischen zahlreiche Hemmstoffe. Oft weiß man sogar genau, wie diese Hemmstoffe an das jeweilige Enzym binden.
Lisa Peltason und Jürgen Bajorath haben nun Hunderte dieser Hemmstoffe miteinander verglichen. Dabei analysierten sie nicht nur ihren molekularen Aufbau und die Stärke der Hemmwirkung, sondern auch, wie der Hemmstoff an das Enzym andockt. Die Ergebnisse zeigen, dass Enzyme nicht so wählerisch sind wie lange angenommen: „Oft gibt es bestimmte Vorgaben, die ein Hemmstoff erfüllen muss, um an ein Enzym zu binden“, erklärt Professor Bajorath. „Davon abgesehen, ist der Spielraum aber erstaunlich groß.“ Bildlich gesprochen: Ob Fingerhandschuh oder Fäustling, spielt kaum eine Rolle, Hauptsache, die Hand passt.
Oft geht die Flexibilität sogar noch weiter. Bajorath vergleicht die Situation mit einer sanften Hügellandschaft, die durch mehrere tiefe Schluchten unterbrochen ist. Dazwischen erzeugen kleine Variationen im Aufbau des Wirkstoffs nur moderate Unterschiede im Bindungsverhalten. In der Nähe einer Schlucht jedoch reicht eine minimale Änderung in die falsche Richtung, und die Substanz wird unwirksam. „Dahinter tut sich jedoch oft eine neue Hügellandschaft auf, auf der sich eine gänzlich andere Substanzklasse tummelt“, erläutert der Bioinformatiker.
Für die Pharmaforschung ist das eine gute Nachricht. Schließlich zeigt die Studie, dass auch Abseits ausgetretener Pfade noch neue Medikamente schlummern können. Allerdings, so Bajorath, „eine Voraussage pharmazeutisch interessanter Strukturmotive leistet unsere Untersuchung nicht. Dazu wenden wir andere Methoden an wie zum Beispiel das Virtuelle Screening.“
(idw – Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, 07.05.2007 – AHE)