Trauriger Rekord: Die Zahl der Menschen mit starkem Übergewicht hat die weltweite Marke von einer Milliarde geknackt, wie eine globale Analyse zeigt. Seit 1990 hat sich der Anteil adipöser Erwachsener verdoppelt bis verdreifacht, bei Kindern und Jugendlichen sogar vervierfacht. Betroffen sind nicht mehr nur Menschen in Industrieländern, sondern verstärkt auch in ärmeren Regionen. Die Unterernährung ist demgegenüber weltweit zurückgegangen, wie das Team in „The Lancet“ berichtet.
Sowohl Über- als auch Untergewicht können die Gesundheit in vielerlei Hinsicht schädigen und sind damit relevante Risikofaktoren. Fettleibigkeit führt zum Beispiel häufig zu Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Leberschäden oder Krebs. In den letzten Jahrzehnten hat der Anteil übergewichtiger Menschen in Deutschland und vielen anderen westlichen Ländern deutlich zugenommen, auch Kinder und Jugendliche sind in verstärktem Maße betroffen. In vielen ärmeren Ländern galt dagegen Unterernährung als Hauptproblem.
Globale Auswertung des BMI
Wie sich diese beiden Formen der Fehlernährung weltweit entwickelt haben, haben nun Wissenschaftler der „NCD Risk Factor Collaboration“ – ein Zusammenschluss aus über 1.500 Forschenden – näher analysiert. Dafür verglichen sie Gesundheitsdaten von 222 Millionen Menschen aus fast 200 Ländern aus den Jahren 1990 bis 2022. Darunter waren 158 Millionen Erwachsene über 20 Jahren sowie 63 Millionen Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 19 Jahren. Die Stichproben sind nach Angaben der Forschenden repräsentativ für die jeweilige Bevölkerung und decken etwa 99 Prozent der Weltbevölkerung ab.
Die Forschenden analysierten die Messdaten zu Körpergröße und Gewicht und berechneten daraus jeweils den Body Mass Index (BMI), der als Kennzahl für die Einstufung in Unter-, Normal- und Übergewicht dient. Erwachsene werden ab einem BMI von 30 als stark übergewichtig beziehungsweise adipös eingestuft und unterhalb eines BMI von 18,5 als untergewichtig. Bei Kindern und Jugendlichen hängt die genaue Einstufung des BMI vom Alter und vom Geschlecht ab, da ihr Wachstum in mehreren Schüben verläuft. Entscheidend war bei Heranwachsenden daher die Abweichung vom BMI-Mittelwert.
Übergewicht nimmt zu, Untergewicht wird seltener
Die Analyse ergab, dass im Jahr 2022 mehr als eine Milliarde Menschen weltweit stark übergewichtig waren – ein neuer Rekord. Betroffen sind 879 Millionen Erwachsene, davon 504 Millionen Frauen und 374 Millionen Männer. Das entspricht 19 Prozent beziehungsweise 14 Prozent aller Erwachsenen des jeweiligen Geschlechts. Damit hat sich die Zahl der Fettleibigen seit 1990 bei Männern verdreifacht und bei Frauen verdoppelt.
Einen umgekehrten Trend offenbarte die Analyse beim Untergewicht, das nun weltweit weniger Menschen betrifft: Der Anteil der untergewichtigen Erwachsenen halbierte sich, so dass 2022 nur noch 183 Millionen Frauen und 164 Millionen Männer unter Unterernährung litten. Das entspricht sieben beziehungsweise sechs Prozent der Frauen und Männer.
Ähnliche Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen
Bei Kindern und Jugendlichen zeigte sich ein ähnliches Bild wie bei Erwachsenen: Von ihnen hatten zuletzt weltweit rund 159 Millionen einen stark erhöhten BMI, darunter 65 Millionen Mädchen und 94 Millionen Jungs. Das entspricht rund sieben beziehungsweise neun Prozent der Heranwachsenden, wie die Forschenden berichten. Damit hat sich die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Adipositas seit 1990 vervierfacht und ist noch stärker gestiegen als bei den Erwachsenen.
Zwischen 1990 und 2022 sank indes der Anteil der untergewichtigen Kinder und Jugendlichen, wenn auch etwas langsamer als bei den Erwachsenen: Bei Mädchen sank die Zahl der Unterernährten um etwa ein Fünftel auf nun 77 Millionen und bei Jungen um etwa ein Drittel auf nunmehr 108 Millionen. Das entspricht einem Anteil von acht beziehungsweise zehn Prozent untergewichtiger Mädchen und Jungen.
Trend bei Kindern folgt dem von Erwachsenen
Insgesamt sind der Analyse zufolge in den vergangenen Jahrzehnten die Menschen in allen Altersgruppen und fast allen Ländern dicker geworden. Der globale Trend zum Übergewicht hält damit weiter an. Dabei ist der Trend zwar auch weiterhin je nach Alter und Geschlecht unterschiedlich stark ausgeprägt, hat sich zwischen den Gruppen jedoch wie in früheren Studien prognostiziert immer weiter angeglichen.
„Es ist sehr besorgniserregend, dass sich die Fettleibigkeitsepidemie, die 1990 in weiten Teilen der Welt bei Erwachsenen zu beobachten war, nun auch bei Kindern und Jugendlichen im schulpflichtigen Alter widerspiegelt“, sagt Seniorautor Majid Ezzati vom Imperial College London zu den Ergebnissen. Grund dafür könnte sein, dass Heranwachsende immer häufiger genau wie Erwachsene außer Haus und mehr verarbeitete Lebensmittel essen, vermuten die Forschenden.
Übergewicht verdrängt Unterernährung als Hauptproblem
Zusammen haben diese Entwicklungen dazu geführt, dass nun in den meisten Ländern der Erde mehr Menschen von Fettleibigkeit als von Unterernährung betroffen sind. Interessanterweise hat Adipositas besonders in einigen Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen drastisch zugenommen, wie die Forschenden berichten. Dazu zählen Regionen in Polynesien und Mikronesien, in der Karibik, im Mittleren Osten und Nordafrika, wo starkes Übergewicht nun sogar häufiger ist als in Europa. Die reichen Industriestaaten haben jedoch ebenfalls weiterhin einen hohen Anteil an Fettleibigen.
In Deutschland waren im Jahr 2022 beispielsweise 19 Prozent der Frauen und 23 Prozent der Männer sowie sieben Prozent der Mädchen und zehn Prozent der Jungen stark übergewichtig. Die deutschen Männer sind damit nun häufiger adipös als im weltweiten Schnitt, die restlichen Gruppen liegen etwa im Durchschnitt. Untergewicht betraf indes nur zwischen ein und drei Prozent der Deutschen.
Klimawandel und Kriege könnten Fehlernährung verstärken
„Gleichzeitig sind immer noch hunderte Millionen Menschen von Unterernährung betroffen, insbesondere in einigen der ärmsten Teile der Welt“, so Ezzati. Am häufigsten ist Unterernährung unter Erwachsenen in Eritrea, Timor-Leste und Äthiopien, bei Heranwachsenden in Indien, Sri Lanka und Niger. Um beide Formen der Fehlernährung erfolgreich bekämpfen zu können, müssten gesunde, nährstoffreiche Lebensmittel deutlich billiger und breiter verfügbar werden, mahnt Ezzati.
„Diese Studie unterstreicht, wie wichtig es ist, Übergewicht vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter durch Ernährung, körperliche Aktivität und angemessene Pflege zu verhindern und zu bewältigen“, ergänzt Tedros Adhanom Ghebreyesus, Generaldirektor der WHO. Er sieht Regierungen und Gemeinden sowie nationale Gesundheitsbehörden in der Pflicht, Übergewicht durch entsprechende Richtlinien einzudämmen. Dies erfordere aber auch „die Zusammenarbeit des privaten Sektors, der für die gesundheitlichen Auswirkungen seiner Produkte verantwortlich sein muss“, sagt er mit Blick auf Lebensmittelhersteller.
Koautor Guha Pradeepa von der Madras Diabetes Research Foundation, warnt indes vor einer Zuspitzung der Lage. Durch Krisen wie den Klimawandel und den Krieg in der Ukraine stiegen die Armut und die Kosten für gesunde, nährstoffreiche Lebensmittel. „Die Folgewirkungen davon sind unzureichende Ernährung in einigen Ländern und Haushalten und eine Verlagerung auf weniger gesunde Lebensmittel in anderen“, so Pradeepa. Dies könnte künftig zu noch mehr unter- und übergewichtigen Menschen führen. (The Lancet, 2024; doi: 10.1016/S0140-6736(23)02750-2)
Quelle: The Lancet