Medizin

Neue Hoffnung für Übergewichtige?

Wirkstoff blockiert Hungergefühl

Runter mit dem Gewicht und weg mit den Bauchspeckrollen – so lautet die Forderung der Mediziner, um den Blutdruck und auch das Risiko für Folgeerkrankungen von Übergewichtigen zu senken. Doch den meisten Patienten gelingt es nicht, auf Dauer ihr Gewicht zu reduzieren. Hoffnung macht Übergewichtigen jetzt ein völlig neuer Wirkstoff, der das Hungergefühl blockiert, die Blutfettspiegel verbessert und damit die Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes Typ 2 verringert.

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Rimonabant heisst die Substanz, die seit über zwei Jahren in Europa und den USA erprobt wird und wenig Nebenwirkungen hat. Ergebnisse präsentierte der europäische Studienleiter Professor Luc van Gaal vom Universitätshospital Antwerpen am 29. Oktober 2005 auf dem 4. Internationalen Symposium „Adipositas und Bluthochdruck“ im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch.

Galt noch bis in jüngster Zeit, dass alle Menschen, die übergewichtig oder stark übergewichtig (adipös) sind, ein großes Risiko haben, an Diabetes Typ 2 und Bluthochdruck mit seinen Folgen Schlaganfall, Herzinfarkt, und Nierenschäden zu erkranken, sieht die Medizin das heute aufgrund neuester Erkenntnisse über die Adipositas differenzierter.

Body Mass Index nicht entscheidend

Demnach ist nicht mehr so sehr der so genannte Body Mass Index (BMI) entscheidend, als vielmehr, an welchen Stellen der Körper das überschüssige Fett einlagert. Gefährlich sind vor allem die Fettdepots um Bauch und Taille, früher freundlich mit „Embonpoint“ umschrieben und als Zeichen des Wohlstands angesehen. Mediziner sprechen von „abdominaler Adipositas“. Menschen mit dieser Form des Übergewichts sind besonders gefährdet, frühzeitig an den Folgeerscheinungen der Adipositas zu erkranken.

Das ist eine der neuesten Erkenntnisse, die auf dem 4. Internationalen Symposium „Adipositas und Bluthochdruck“ im Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) Berlin-Buch Ende Oktober 2005 in Berlin vorgestellt worden sind. Der effektivste Weg, den Blutdruck und auch die Gefahr für die Folgeerkrankungen zu senken, ist abzunehmen. Doch den meisten Patienten gelingt es nicht, auf Dauer abzunehmen. „Allein die Patienten für diesen mangelnden Erfolg verantwortlich zu machen, wäre zu einfach“, nimmt Professor Sharma die Patienten in Schutz. „Genetische Faktoren spielen bei der Regulierung des Körpergewichts ebenso eine Rolle, wie die Fettzellen selbst. Auch erschwert die medikamentöse Behandlung des Bluthochdrucks und des Diabetes oft das Abnehmen.“

Endocannabinoid-System steuert Hungergefühl

Einen Ausweg bietet möglicherweise die Substanz Rimonabant. Sie greift genau dort ein, wo der Körper das Hungergefühl steuert, im so genannten Endocannabinoid-System, kurz ECS. Endocannabinoide sind körpereigene Cannabis (Haschisch)-ähnliche Substanzen, die bei Stress, Hunger und Schmerzempfinden ausgeschüttet werden, erläuterte Professor Vincenzo di Marzo vom Institut für Biomolekulare Chemie des Italienischen Forschungsrats in Pozzuoli auf dem Symposium in Berlin. Sie spielen unter anderem auch eine Rolle bei der Feinsteuerung des Herz-Kreislauf-Systems.

Bisher sind vor allem zwei Endocannabinoide bekannt, darunter das Anandamid. Der Name stammt aus dem Sanskrit und bedeutet Seligkeit. Entdeckt wurde das System, wie die Marzo weiter sagte, bei der Erforschung der Wirkungsweise von Cannabis (Haschisch), was dem System den Namen gab. Bei Hunger schüttet der Organismus vermehrt Anandamid aus, erläuterte er. So weiss man auch, dass Haschisch-Raucher häufig regelrechte Hungerattacken haben.

Fettreserven für Hungerperioden

Endocannabinoide binden und aktivieren zwei Cannabinoid-Rezeptoren. Vor allem der so genannte Cannabinoid Rezeptor1 (CB1) ist für die Forschung und die Medizin von großem Interesse. CB1 kommt hauptsächlich im Gehirn, in verschiedenen Organen und auch im Fettgewebe vor. „Er ist offenbar vor allem für die Nahrungsaufnahme nach einer Hungerperiode verantwortlich und sorgt dafür, dass das Fett in den Fettzellen deponiert wird“, erläuterte di Marzo. So schaffe sich der Körper Fettreserven, um Hungerperioden besser überstehen zu können.

Je mehr sie fressen, desto stärker binden die Endocannabinoide an den CB1-Rezeptor, haben Versuche mit adipösen Laborratten gezeigt. Er ist bei diesen Tieren überaktiviert. Die Folge: Die Bindung von Endocannabinoiden an CB1 verstärkt den Appetit, wie Prof. George Kunos von dem National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism (NIAAA) der National Institutes of Health (NIH), Bethesda, USA, der kurzfristig in Berlin absagte, herausfand. Weiter konnte Prof. Kunos im Versuch mit Mäusen zeigen, dass die Blockade dieses Rezeptors mit der Substanz Rimonabant den Appetit bremst. Die Tiere werden schlank und bleiben es auch trotz überreichlichen Futterangebots. Und Rimonabant senkte bei den Tieren nicht nur das Gewicht, sondern auch den Blutdruck.

RIO in Europa

Seit über zwei Jahren wird Rimonabant in klinischen Studien an Patienten erprobt. Mehr als 1.500 Patienten aus 60 Kliniken in Belgien, Deutschland, Finnland, Schweden, den Niederlanden und den USA mit einem Body Mass Index (BMI) von über 27 kg/m2 und über 30 kg/m2, die außerdem zu hohen Blutdruck und zu hohe Blutfettwerte nahmen an der „RIO-Studie“ (Rimonabant in Obesity) teil. Die „RIO-Studie“ ist Teil einer von insgesamt vier Phase III-Studien (sie prüft Wirksamkeit und Nebenwirkungen in einer größeren Zahl von Patienten) mit 6.600 Patienten. Die Patienten aßen Diät und mussten auch ein Bewegungsprogramm absolvieren. Sie wurden in drei Gruppen eingeteilt: Die erste Gruppe erhielt täglich 20 Milligramm (mg) Rimonabant, die zweite täglich fünf mg Rimonabant und die dritte Gruppe bekam täglich ein Scheinmedikament (Plazebo).

Weniger Gewicht und bessere Stoffwechselwerte

Wie Prof. van Gaal in Berlin berichtete, zeigte sich nach einem Jahr, dass Patienten, die täglich 20 mg Rimonabant bekommen hatten, im Schnitt 6,6 Kilogramm abnahmen. Patienten, die täglich die geringere Dosis von 5 mg einnahmen, verloren im Schnitt 3,4 Kilo Körpergewicht, Patienten mit Plazebo nahmen im Schnitt nur 1,8 Kilogramm ab. Die Gruppe der Patienten mit einer täglichen Dosis von 20 mg Rimonabant nahmen von allen Studienteilnehmern nicht nur am meisten ab, sondern es gelang ihnen auch, vor allem an den kritischen Stellen Bauch und Taille abzuspecken. Bemerkenswert ist, so Prof. van Gaal, dass bei diesen Patienten auch die Risikofaktoren für das Stoffwechselsyndrom und Herz-Kreislauf-Krankheiten stärker gesenkt werden konnten, als durch die Gewichtsabnahme allein zu erwarten gewesen wäre. Er schätzt, dass 50 Prozent dieser Wirkung auf das Konto von Rimonabant zurückzuführen sind. Denn die Patienten, welche die 5 mg-Dosis Rimonabant bekommen hatten, nahmen zwar auch deutlich ab. Bei ihnen hatten sich aber die Blutfettwerte nicht so verbessert, wie bei den Patienten mit der höheren Dosis.

Geringe Nebenwirkungen

An Nebenwirkungen zeigten sich Übelkeit, Durchfall, Schwindelgefühle, die aber nach Aussage von van Gaal mild und vorübergehend waren. „Nach den bisherigen Ergebnissen ist die Substanz Rimonabant vor allem für die Therapie von Patienten mit abdominaler Adipositas vielversprechend“, sagte van Gaal in Berlin. Die zweijährige Studie ist jetzt abgeschlossen und ihre Ergebnisse werden voraussichtlich im kommenden Jahr publiziert.

(Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), 31.10.2005 – DLO)

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