Neue Hoffnung für Gelähmte: Forschende haben eine neue Therapie entwickelt, die Lähmungen infolge eines durchtrennten Rückenmarks aufhebt. Sie regt gezielt das Wachstum der Nervenfasern an, die für die Bewegungssteuerung essenziell sind, und leitet die Fasern über die Verletzungsstelle hinaus an ihren natürlichen Zielort. In Tests mit gelähmten Mäusen konnten dadurch 27 von 30 Tieren wieder laufen, wie die Forschenden in „Science“ berichten. Dies weckt Hoffnung auch für einen Einsatz beim Menschen.
Wenn das Rückenmark von Wirbeltieren wie Mäusen und Menschen teilweise geschädigt wird, etwa durch einen Unfall, erholt es sich in der Regel nach einigen Wochen und die anfängliche Lähmung verschwindet wieder. Ist das Rückenmark nach schweren Verletzungen hingegen vollständig beschädigt, kommt es nicht zu einer solchen natürlichen Selbstreparatur, die Betroffenen bleiben gelähmt. Bekannt ist, dass dabei die Regeneration der durchtrennten Axone entscheidend ist. Diese Nervenfasern verbinden Nervenzellen miteinander und ermöglichen ihnen, miteinander zu kommunizieren.
Ansätze zur Behandlung von Rückenmarksverletzungen
Schon länger arbeiten Forschende an Therapiemethoden, um Gelähmten ihre motorischen Fähigkeiten zurückzugeben. Einer der Ansätze beinhaltet Elektroden-Implantate am Rückenmark, mit deren Hilfe die Betroffenen sich quasi selbst fernsteuern können. Die zugrundeliegenden Nervenschäden werden dabei aber nicht geheilt, sondern die Muskeln über Umwege zur Bewegung gebracht. Ein zweiter Ansatz ist die Verwendung von bioaktiven Nanofasern, die das Wachstum von Nerven fördern. Sie schaffen damit im Körper bessere Voraussetzungen für die Nervenheilung.
Auch erste Versuche mit Stammzell-Injektionen bei einem Patienten sowie Gentherapien an Mäusen lieferten vielversprechende Erkenntnisse, um eines Tages mehr Gelähmten zu helfen. Die Bedingungen, unter denen sich die geschädigten Nerven optimal erholen und sich die motorischen Fähigkeiten erfolgreich wieder herstellen lassen, sind jedoch komplex und noch nicht vollständig untersucht.
Welche Neuronen sind nötig?
Bereits 2018 zeigte eine Studie an Mäusen, dass Nervenfasern bei anatomisch vollständigen Rückenmarksverletzungen regeneriert werden können, indem das Wachstum dieser Axone durch bestimmte Substanzen angeregt wird. Die Behandlung reichte aber noch nicht aus, um die motorische Funktion der Tiere wiederherzustellen. Jetzt haben die Forschenden ihre Therapiemethode weiterentwickelt, so dass sie sich als wirksam erwiesen hat – zumindest bei Mäusen.
Das Team um Jordan Squair von der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL) analysierte an Mäusen sowie in Zell- und Gewebekulturen, welche Untergruppen von Neuronen des Rückenmarks nach einer teilweisen Verletzung auf natürlichem Weg wieder repariert und verbunden werden, um die Bewegungsfähigkeit wiederherzustellen. Sie sequenzierten dafür unter anderem die RNA im Kern von Tausenden Nervenzellen des Rückenmarks, die die Bewegung der Beine steuern. Außerdem beeinflussten sie in Zell- und Gewebemodellen mit bestimmten Substanzen das Wachstum der Neuronen und testeten, ob sich dadurch die Heilung von Rückenmarkverletzungen verbessern lässt.
Entscheidende Voraussetzungen für Bewegung identifiziert
Es zeigte sich, dass 28 verschiedene Unterarten von Neuronen im Rückenmark an der Bewegungskontrolle beteiligt sind. Unter diesen identifizierten die Forschenden die Axone eines spezifischen Neuronentyps, ohne deren Heilung eine Genesung des Rückenmarks offenbar nicht möglich ist. In diesen Neuronen waren verstärkt solche Gene aktiv, die am Um- oder Aufbau bestimmter Teile der Nervenzellen beteiligt sind, etwa dem Zellskelett. Dadurch waren sie anatomisch eher in der Lage als andere Neuronentypen, trotz teilweise verletztem Rückenmark Signale weiterzugeben.
Gezielt diese Neuronen zum Wachsen und Überbrücken der durchtrennten Stelle anzuregen, reichte jedoch nicht aus, um die Nervenschäden ausreichend zu heilen: „Unsere Beobachtungen haben auch gezeigt, dass diese Axone sich wieder mit ihren natürlichen Zielen verbinden müssen, um die motorische Funktion wiederherzustellen”, sagt Erstautor Squair. Wie das Team herausfand, müssen die Nervenfasern bis zu einer deutlich jenseits der Schnittstelle liegenden Zone des Rückenmarks wachsen – nur dann ist auch eine Steuerung der Muskeln und Wiederherstellung der Bewegungsfähigkeit möglich. Das sei eine neue Erkenntnis und zuvor unbekannte Voraussetzung dafür, dass sich gelähmte Individuen wieder bewegen können, so die Neurowissenschaftler.
Wie funktioniert die Therapie?
Doch von allein finden die durchtrennten Nervenfasern nicht ihren Weg in diese Zielregion, wie Squair und seine Kollegen feststellten. Basierend auf ihren Erkenntnissen entwickelten die Forschenden deshalb eine angepasste dreistufige Therapie, die sie an Mäusen mit komplett durchtrenntem Rückenmark testeten. Dabei orientierten sie sich am natürlichen Reparaturmechanismus des Rückenmarks und versuchten, den Prozess nachzubauen. Die drei Stufen beinhalteten die Stimulation, die Unterstützung und die Anziehung der wachsenden Axone.
Zunächst stimulierten die Forschenden das natürliche Wachstumsprogramm der benötigten Neuronen, indem sie die Produktion von drei Wachstumsfaktoren (Spp1, Igf1, Cntf) anregten. Dies förderte die Regeneration der Nervenfasern. Anschließend regten sie durch die Gabe zweier weiterer Wachstumsfaktoren (FGF2 und EGF) die verstärkte Bildung bestimmter Proteine an, die das Wachstum der Axone durch die Verletzungsstelle unterstützen.
Im dritten Schritt injizierte das Team den Mäusen zunächst ein Molekül (GDNF) in die Nervenfasern, das diese anzieht und zu ihren natürlichen Zielen unterhalb der Verletzung lenkt. Da dies jedoch noch nicht ausreichte, optimierten die Forschenden ihre Methode: Um die Konzentration des Wachstumsfaktors GDNF im Gewebe zu erhöhen und länger aufrechtzuerhalten, schleusten sie mithilfe einer viralen Genfähre entsprechende Genabschnitte in die Neuronen ein. Diese produzierten dadurch über einen längeren Zeitraum erhöhte Mengen GDNF. Dadurch erhielten die Axone mehr Zeit, um die vergleichsweise große Distanz zu ihrem ursprünglichen Ziel auf der anderen Seite der Verletzung zu erreichen.
Gelähmte Mäuse können wieder laufen
Diese Therapie wendeten Squair und Co bei insgesamt 30 Mäusen (fünf Kohorten à sechs Mäuse) an, deren Rückenmark anatomisch komplett geschädigt war, sodass sie gelähmt waren. Drei bis vier Wochen nach der Behandlung konnten 27 der 30 Mäuse wieder ihre Beine bewegen und laufen.
Ihr Gangmuster ähnelte dabei dem Laufmuster von Mäusen, die sich nach einer teilweisen Rückenmarksverletzung auf natürliche Weise erholten und wieder laufen lernten. Die Tiere liefen demnach weniger flüssig und stabil als gesunde Mäuse.
„Diese Resultate demonstrieren, dass unsere Regenerationsstrategie zu einer substanziellen Wiederherstellung des Laufvermögens trotz komplett durchtrenntem Rückenmark führte“, schreiben Squair und seine Kollegen. Gleichzeitig bestätige dies, dass die Regeneration bestimmter Neuronen-Untergruppen bis in ihre natürliche Zielregion ein entscheidender Faktor sei. „Diese Erkenntnis hat große Bedeutung für die Entwicklung von Therapien für größere Säugetiere und den Menschen“, so die Forschenden.
Ist die Anwendung bei Menschen möglich?
Die Forschenden wollen ihre neue Therapiemethode künftig mit der elektrischen Stimulation des Rückenmarks kombinieren. Sie gehen davon aus, dass die verschiedenen Verfahren synergetisch zusammenwirken. „Wir glauben, dass eine umfassende Lösung für die Behandlung von Rückenmarksverletzungen beide Ansätze erfordert – Gentherapie, um relevante Nervenfasern nachwachsen zu lassen, und Rückenmarkstimulation, um die Fähigkeit zur Bewegungssteuerung sowohl dieser Fasern als auch des Rückenmarks unterhalb der Verletzung zu maximieren“, sagt einer der Seniorautoren, Grégoire Courtine vom Lausanner Forschungszentrum NeuroRestore.
Bevor diese Therapie – oder die Kombination der Behandlungen – bei Menschen mit Rückenmarksverletzungen angewandt werden kann, müssen jedoch noch weitere Studien an kleinen und größeren Tieren deren Wirkweise bestätigen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass die Technologien sich in den kommenden Jahren soweit weiterentwickeln, dass auch gelähmte Menschen wieder gehen können. (Science, 2023; doi: 10.1126/science.adi6412)
Quellen: Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne, University of California