Eigentlich sollte die Kinderlähmung bis Ende 2005 weltweit besiegt sein. Das jedenfalls war das Ziel der Weltgesundheitsorganisation WHO und des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen Unicef. Doch mit erneuten Ausbrüchen des Virus ist das Ziel in weite Ferne gerückt – kein Anlass zum Feiern am morgigen Welt-Poliotag.
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Das Virus, das vereinzelt schon als ausgerottet galt, ist wieder auf dem Vormarsch. Nicht nur in Asien und Afrika, sondern auch in der westlichen Welt: Die USA registrierte jetzt nach 26 Jahren erstmals wieder ein Ausbruch der Kinderlähmung. In einer Gemeinde der Amish People im Bundesstaat Minnesota sind mindestens vier Kinder mit dem Virus infiziert worden. Das Polio-Virus war Anfang Oktober bei einem sieben Monate alten Baby mit schwerer Immunschwäche entdeckt worden. Anschließende Tests brachten die Infektion auch bei den anderen Kindern zu Tage. Die Amish sind eine fromme Religionsgemeinschaft, die den Fortschritt – und damit auch Impfungen – ablehnt. Nachdem in den USA der letzte Fall von Kinderlähmung 1991 aufgetreten ist, galt die USA seit 1994 als poliofreie Nation.
Mehr Neuinfektionen
Die Zahl der Neuinfizierungen mit Kinderlähmung steigt global wieder deutlich an. Weltweit sind inzwischen 1.353 Poliofälle gemeldet. Die meisten in Nigeria mit 489, gefolgt vom Jemen mit 472 und Indonesien mit 264 Fällen der Kinderlähmung. Axperten schötzen jedoch, dass die Dunkelziffer deutlich höher liegen könnte, da die meldepflichtige Erkrankung erst anhand der so genannten „Schlaffen Lähmung“ registriert wird, aber nur einer von 100 Erkrankten diese Symptome ausbildet.
Ehemals poliofreie Länder betroffen
Derzeit registriert die WHO mehr Polio-Fälle in bis dahin poliofreien Ländern als in Ländern wie Ägypten oder Indien, wo Polio endemisch, also heimisch ist. Die Ursache: Der Virus wurde von Gastarbeitern oder Reisenden eingeschleppt. Besonders betroffen: Nigeria, Jemen, Indonesien und Indien. Indonesien war bereits zehn Jahre lang frei vom Virus. Jetzt breitet sich die Krankheit dort wieder aus.
Das Gesundheitsministerium in Jakarta gab jetzt bekannt, dass es einen ersten Fall in der Provinz Aceh gegeben habe. Bislang sind in Indonesien seit März dieses Jahres 264 Polio-Fälle bekannt, nachdem die Krankheit zuvor zehn Jahre lang nicht aufgetreten war. Anfang des Jahres war das Virus aus dem Sudan eingeschleppt worden. Aceh war vom Tsunami am 26. Dezember 2004 besonders betroffen. Noch immer leben dort zehntausende Menschen in überfüllten und schmutzigen Flüchtlingscamps. Laut Informationen der WHO seien zunächst in Indonesien nur zwei Provinzen auf der Insel Java betroffen, doch inzwischen gebe es Patienten auch in der Hauptstadt Jakarta, in Zentral-Java und auf Sumatra. Befürchtet wird, dass sich das Virus rasch in ganz Asien ausbreiten könnte.
In Afrika gehen die meisten Erkrankungen auf einen Ausbruch im nördlichen Nigeria zurück, der im Oktober 2003 seinen Anfang nahm. Auch in Somalia ist jüngst ein Polio-Fall aufgetreten. Der afrikanische Staat galt seit 2002 frei von Polio. Die in jüngster Vergangenheit registrierten neuen Polio-Erkrankungen sind für das weltweite Polio-AUsrottungsprogramm der WHO ein schwerer Rückschlag.
Impfschutz auch in Deutschland mangelhaft
Aufgrund der Entwicklung hat das Robert- Koch- Institut in Berlin kürzlich appelliert, auch in Deutschland wieder umfassend gegen Polio zu impfen. Deutschland gilt zwar offiziell als poliofrei, aber die Deutschen besitzen nur mangelhaften Schutz. Lediglich die Hälfte der 20-40jährigen verfügt über eine Polio- Grundimmunisierung. Nicht geimpfte Touristen
könnten die Kinderlähmung daher wieder einschleppen.
Jedes vierte Baby auf der Welt bekommt nach Aussage von Unicef keinen ausreichenden Impfschutz. Etwa 27 Millionen Kleinkinder in den ärmsten Ländern der Erde sind den Angaben zufolge nicht gegen gefährliche Infektionskrankheiten wie Masern, Diphtherie, Keuchhusten, Tetanus oder Polio geimpft. Jährlich sterben deshalb zwei Millionen Menschen, darunter 1,4 Millionen Kinder unter fünf Jahren, an diesen vermeidbaren Krankheiten. Kinderlähmung wird hauptsächlich durch Wasser übertragen. Die Krankheit führt zu schweren Lähmungen und endet oft auch tödlich.
Um die Ansteckungsgefahr einzudämmen, sind nach Ansicht der WHO massive Impf- und Aufklärungskampagnen erforderlich. Bis November 2005 benötigt die WHO 75 Millionen US-Dollar, um die Aktivitäten im Jahr 2006 zu sichern. Allein für die Impfaktion in Nigeria werden laut Schätzung von Unicef 60 Millionen Dollar. gebraucht.
(WHO, Amway, 27.10.2005 – NPO)