Gemeinsamer Ursprung: Obwohl sich der rote Blutfarbstoff Hämoglobin in Wirbeltieren, Würmern und Weichtieren unabhängig voneinander entwickelt hat, gehen alle Varianten auf ein Gen ihres letzten gemeinsamen Vorfahren zurück. Das zeigen Untersuchungen am urtümlichen Borstenwurm Platynereis, der dank seiner langsamen Evolution dem gemeinsamen Vorfahren genetisch noch besonders nah ist.
Der rote Blutfarbstoff Hämoglobin bringt in unserem Körper Sauerstoff zu den Zellen und transportiert CO2 ab. Bei Säugetieren besteht dieser lebenswichtige Farbstoff aus vier Untereinheiten, den Globinen, die jeweils ein Eisenion binden. Doch nicht nur Wirbeltiere haben rotes Blut. Auch Ringelwürmer sowie einige Weichtiere und Krebse weisen Varianten von Hämoglobin auf. Deren Struktur ist allerdings so unterschiedlich, dass Wissenschaftler bisher davon ausgingen, dass das Hämoglobin im Laufe der Evolution mehrfach „erfunden“ wurde.
Lebendes Fossil als Untersuchungsobjekt
Forscher um Solène Song von der Universität Paris sind nun dem Rätsel nach den evolutionären Ursprüngen des Hämoglobins auf den Grund gegangen. Dazu untersuchten sie den Meeresborstenwurm Platynereis. Dank seiner langsamen Evolution gilt der Wurm als lebendes Fossil, welches den Ur-Bilateria, den letzten gemeinsamen Vorfahren von Würmern, Insekten und Wirbeltieren, besonders ähnlich ist.
Den Analysen der Forscher zufolge enthält das Genom von Platynereis 19 verschiedene Gene, die Globine codieren. Diese Gene verglichen Song und Kollegen mit bekannten Genomen vieler anderer Spezies, darunter Wasserflöhen, Rippenquallen, Fruchtfliegen und Menschen. Auf diese Weise identifizierten sie fünf Stammklassen von Globinen, die bei Platynereis vorkommen und denen sich alle anderen Varianten zuordnen lassen.
„Die Existenz dieser fünf Klassen weist deutlich darauf hin, dass Ur-Bilateria mindestens fünf Globin-Gene gehabt haben müssen“, schreiben die Forscher. Diese ursprünglichen Globine konnten sich nicht frei durch den Körper bewegen, sondern waren membrangebunden. Die Funktion als Sauerstofftransporter haben sie nach Einschätzung der Forscher erst später erlangt. Zuvor könnten sie beispielsweise als Sauerstoffspeicher gedient haben. Diese Funktion hat heute beispielsweise das Myoglobin in unseren Muskeln.
Neue Benennung nach evolutionärem Ursprung
„Bisher hat sich die wissenschaftliche Einordnung und Benennung von Globinen sehr an Säugetieren sowie an der jeweiligen Funktion orientiert“, schreiben die Forscher. „Wir schlagen eine andere Sichtweise vor, die auf der evolutionären Entwicklung der Globin-Gene in Vielzellern basiert.“ In Anlehnung an die fünf verschiedenen Globin-Gene bei Ur-Bilateria schlagen die Forscher zur Benennung Klasse I, II, III, IV und V vor.
Alle Globine, die heute im Blut Sauerstoff transportieren, ordnen sie anhand der genetischen Daten einer einzigen Klasse von Globinen zu, der Klasse I. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Globine frei im Blut zirkulieren wie bei Würmern, oder ob sie sich wie bei Wirbeltieren in Zellen wie den roten Blutkörperchen befinden.
„Die verschiedenen Arten von Hämoglobin haben sich viele Male unabhängig voneinander entwickelt, aber sie gehen alle auf ein Stamm-Globin der Klasse I zurück“, so die Forscher. Dieses Stamm-Globin findet sich nach wie vor bei vielen Tieren. Bei Säugetieren ist es unter dem Namen Cytoglobin bekannt. Vermutlich speichert es innerhalb der Zellen Sauerstoff und schützt vor oxidativem Stress. Durch Genduplikationen und -mutationen wurden neue Varianten möglich, darunter das heute bekannte Hämoglobin und Myoglobin.
Korrelation mit Größe und Aktivität der Tiere
Die anderen Klassen von Globinen kommen seltener vor und sind bei manchen heutigen Spezies ganz verschwunden. So haben Säugetiere und Vögel keine Klasse-III-Globine. Deren Aufgabe, Zellen vor oxidativem Stress zu schützen, übernehmen hier andere Globine. Die Globine der Klassen II und IV kommen bei den meisten Spezies vor, ihre Funktion ist aber noch unbekannt. Die wahrscheinlich älteste Klasse von Globinen ist Klasse V. Zu ihr zählen die Neuroglobine, die beim Menschen am Sauerstofftransport im Gehirn beteiligt sind.
„Diese Studie hilft, die Evolution der Globine in vielzelligen Lebewesen zu verstehen“, schreiben die Forscher. „Wir haben aufgedeckt, dass es eine komplexe Globin-Evolution gab, bevor diese Proteine im Blut relevant wurden. Zirkulierende Hämoglobine haben sich in verschiedenen Gruppen von Lebewesen konvergent entwickelt, wahrscheinlich in Korrelation mit der zunehmenden Größe und Aktivität der Tiere.“ (BMC Evolutionary Biology, 2020; doi: 10.1186/s12862-020-01714-4)
Quelle: CNRS